Sonntag bis Donnerstag: 9.00-17.00 Uhr Freitags und an den Abenden vor einem Feiertag: 9.00-14.00 Uhr
Yad Vashem ist an Samstagen und jüdischen Feiertagen geschlossen.
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Itamar Wexler, geb. 1951 im Kibbuz Maagan-Michael in Israel, studierte Bildende Kunst am Avni Institute for Art & Design und Kunstgeschichte an der Universität Tel Aviv. Er initiierte, kuratierte und gestaltete Ausstellungen für Institutionen wie das Israel Museum, den Israelischen Rat für Kultur und Kunst, das "Massuah"-Institut für Holocauststudien und viele andere. Bis vor kurzem war er Designer und visueller Berater für das Cameri Theater in Tel Aviv. Er ist Gründungsmitglied des Institute of Israeli Drama. "The Voyage" ist sein erster Dokumentarfilm in voller Länge
In dem für diesen Newsletter geführten Interview mit dem israelischen Filmemacher Itamar Wexler über seinen im Jahr 2021 produzierten Dokumentarfilm The Voyage (Die Reise) beleuchten wir den Umgang einer jüdischen Familie mit einem langegehüteten Geheimnis: dem Verbleib der als psychisch krank erklärten Großmutter in Nazi-Deutschland. Der Film lässt sich vor dem Hintergrund aktueller Diskurse über neurologische Diversität einordnen, die langsam das Geschichtsbild im Hinblick auf die Euthanasie-Verbrechen der NS-Zeit verändern. Die Unfähigkeit der Auseinandersetzung in der deutschen Gesellschaft nach 1945 ergab sich aus der Kontinuität der Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen und Behinderungen. Das Wissen um die Euthansiemorde in der Bevölkerung und die Beteiligung von Mediziner*innen und Fachpersonal wurde darüber hinaus systematisch verschwiegen und geleugnet. Gleichzeit ist das Wissen über jüdische Opfer der Euthanasie in der israelischen Gesellschaft sehr gering und kaum ein Bestandteil der eigenen Erinnerungskultur. The Voyage ist damit ein einzigartiger Film, der historisch genau, aufrichtig und sensibel die Geschichte des Schweigens innerhalb einer Familie aufdeckt und so das schmerzhafte Dilemma einer unmöglichen Entscheidung thematisiert.
Das Interview führte Esther Rachow, Yad Vashem, mit Itamar Wexler in Tel Aviv auf Englisch.
Das Interview wurde aus Gründen der Verständlichkeit redigiert.
Übersetzung aus dem Englischen: Esther Rachow, Yad Vashem
E.R: Warum hast du deinen Film ausgerechnet jetzt gemacht?
I.W.: Das hat sich aus einer Kombination von Zufällen ergeben. Ich bin eine Person, die sich nur auf eine Sache konzentrieren kann. Kurz bevor ich den Film begonnen hatte, wurde das Budget für meine Arbeit im Cameri Theater gekürzt und ich konnte mich einem neuen Projekt widmen. Der direkte Auslöser war dann ein zufälliges Gespräch mit meiner Mutter, bei dem mir plötzlich klar wurde, dass einige verschiedene Versionen über den Tod unserer Großmutter Sonia, der Mutter meines Vaters existierten. Das war 1996 ungefähr ein Jahr nach dem Tod meines Vaters. Bei mir kam sofort der Verdacht auf, dass etwas Schreckliches passiert sein musste, worüber die Geschwister meines Vaters, mein Vater und mein Großvater nie gesprochen hatten. Zunächst habe ich lange Zeit gezögert, das Thema aufzumachen. Ich hatte Angst davor, was ich über meinen Vater erfahren würde. Es war eine „Jetzt-oder-nie Entscheidung“, die zu diesem Film geführt hat. Durch den Film hatte ich nun die Möglichkeit, mich einerseits gänzlich der Recherche zu widmen und andererseits konnte ich durch die professionelle Distanz, aus der Perspektive des Regisseurs besser mit den Erkenntnissen über meine Familie umgehen.
E.R: Hattest du ein Filmskript oder wie ist der Film entstanden?
I.W: Zunächst einmal muss ich sagen, dass ich in der Regel sehr gut darin bin, langfristige Projekte durchzuführen. Aber diesmal ging es um eine absolut persönliche Angelegenheit und ich hatte keine Antwort darauf, wie ich vorgehen wollte, mein Ziel war jedoch klar.
Zunächst sprang ich ins Leere und wusste nicht, wo ich aufkommen würde, aber mir war klar, dass ich an irgendeiner Stelle auf etwas stoßen würde und auch, dass etwas Gutes dabei herauskommen würde. So ist der Film zu einem Teil meiner Recherchen geworden. Ich kann dir ein Beispiel geben: In dem Film gibt es Szenen mit einem ehemaligen Nachbarn meiner Großeltern in Hamburg, Herr Busch. Er war ein kleines Kind als meine Eltern dort lebten, viel jünger als mein Vater und seine Geschwister und daher erinnerte er sich nur an meinen Großvater. Das Treffen mit ihm fand einen Monat, nachdem wir den ersten Drehtag des Filmes bereits gehabt hatten, statt. Die erste Szene, die wir damals gedreht haben, wurde dann die letzte Szene des Filmes an sich: die Stolpersteinlegung vor dem ehemaligen Wohnhaus meiner Großeltern. Für diese Veranstaltung hatten wir viel Medienöffentlichkeit bekommen und so wurde Herr Busch, der über 80-jährige ehemalige Nachbar meiner Familie, auf uns aufmerksam und nahm Kontakt auf. Wir entschieden spontan, mit ihm zu drehen und seine Erinnerungen festzuhalten. So ist der ganze Film zustande gekommen. Ich habe am Anfang nicht gewusst, was mich erwarten würde und was ich finden würde, und habe die Geschichte in Echtzeit entfaltet und gedreht.
E.R: Deine Großmutter Sonia Wechsler hat eine doppelte Verfolgungsgeschichte in Nazi-Deutschland erlitten. Sie wurde für ihre psychische Erkrankung und als Jüdin verfolgt. Letztendlich wurde sie in der Aktion T4 in einer Tötungsanstalt in Brandenburg/ Havel ermordet. Hat die Entdeckung dieser Tatsache etwas an deinem eigenen Selbstverständnis als Angehöriger der sogeannten zweiten Generation geändert?
I.W.: Ich habe mich selbst niemals als zweite Generation verstanden. Ich habe viele Freunde, die die Idee der zweiten Generation für sich kultiviert haben, aber ich selbst habe mich da nie wiedergefunden. Ich bin Teil einer Generation des Post-Traumas, so bin ich aufgewachsen und heute verstehe ich, welche Elemente meines Aufwachsens von den Traumata meiner Eltern geprägt waren. All dies war für mich jedoch normal, so wuchs ich auf, es war nichts Besonderes bei uns zu Hause und wir haben nicht darüber gesprochen.
Aber als ich über die Geschichte meiner Großmutter erfuhr und verstand, was meine Familie getan hatte, dass sie sie in Nazi-Deutschland zurückgelassen hatten und auch über ihre psychische Erkrankung, das hat mich sehr bescheiden gemacht. Ich bin ein Mensch, der sehr genau weiß, was er will, ich bewerte ziemlich schnell und ich bilde mir schnell eine Meinung. Aber seitdem so viele Menschen nach Filmvorstellungen von The Voyage immer und immer wieder zu mir kommen und sagen: „Aber deine Familie hatte doch keine andere Wahl“, das hat mich bescheidener gemacht. Vor allem, wenn man gleichzeitig weiß, dass es Familien gab, die ihre Angehörigen begleitet und nicht allein gelassen haben, die am Ende dann selbst ermordet wurden. Ich kann aus heutiger Sicht nicht genau nachvollziehen, welche anderen Möglichkeiten sie eventuell noch gehabt hätten. Aber grundsätzlich: wie hätten sie sich anders entscheiden können? Man hatte keine Wahl, aber man war dazu verurteilt, eine Entscheidung zu treffen.
E.R.: Hat die Entdeckung des Schicksals deiner Großmutter nachträglich dein Verhältnis zu deinem Vater geändert? Und wenn ja, wie?
I.W.: Zunächst einmal ist das eine sehr gute Frage, weil ich sie mir selbst häufig gestellt habe. Bei einer meiner Filmvorführungen in Brandenburg wurde ich einmal nach einer „Botschaft an die Welt“ gefragt, oder so etwas in die Richtung, die ich nun, nachdem ich diesen Film gemacht habe, senden wollte. Darauf hatte ich keine Antwort, ich bin da nicht so von mir selbst eingenommen. Ich habe keine Botschaften für die Welt.
Was ich jedoch sagen kann, ist, dass mein Film uns als Familie wieder zusammengeführt hat. Ist das nicht genug? Als ich meinen Cousin, den jüngsten Sohn meines Onkels, für den Film interviewt habe, mit dem ich zuvor kaum jemals gesprochen hatte, hat sich unmittelbar etwas zwischen uns geklärt. Das Schweigen über das Schicksal unserer Großmutter hatte uns alle jahrzehntelang voneinander getrennt. Nun, lange nach dem Tod meines Vaters, kamen wir zum ersten Mal zusammen.
E.R.: Hast du jemals mit deiner Mutter über deine Recherchen und die Ergebnisse gesprochen oder sie mit der Wahrheit der Entscheidung deines Vaters, seine Mutter in Deutschland zurückzulassen, konfrontiert?
I.W.: Meine Mutter hatte bereits eine beginnende Demenz, als ich mit dem Projekt begann und ich entschied mich, die Geschichte nicht mit ihr zu teilen. Sie hätte sie vermutlich wieder vergessen und ich befand, dass sie es verdiente, in Ruhe gelassen zu werden.
E.R.: Dein Vater, Jacob Wexler, war ein bekannter israelischer Künstler. In deinem Film besprichst du seine Kunst vor dem Hintergrund des Schicksals seiner Mutter und seiner Erinnerung an sie. Denkst du, es ist möglich, die Kunstwerke deines Vaters außerhalb des Kontextes seiner Familiengeschichte zu verstehen?
I.W.: Ja, das ist in jedem Fall möglich. Es ist gut, das persönliche Leben eines Künstlers zu verstehen, aber das Kunstwerk bleibt dasselbe. Sicherlich kommuniziert die Kunst mit der Persönlichkeit des Künstlers, aber nicht notwendigerweise immer. Das Kunstwerk spricht auch für sich selbst. Wir können zum Beispiel ein kleines, spätes Gemälde meines Vaters nehmen. Es lässt sich wunderbar in ein Verständnis westlicher Kunstgeschichte einordnen und wir finden zahlreiche Gemeinsamkeiten zu anderen bekannten Künstlern. Die Unterschiede liegen in der individuellen Interpretation dessen, was die Vision meines Vaters von seiner eigenen Kunst gewesen ist. Generell würde ich schon sagen, dass das persönliche Leben einer Person niemals von den Produkten des künstlerischen Schaffens getrennt werden kann, aber verstanden werden doch. Mein Vater portraitierte sich selbst häufig als Clown, hinter einer Maske. Er ist immer hinter einer Maske. Die Maske, der Clown, waren das Schild, hinter dem er sich versteckte. Gleichzeitig ist nicht alles mit seinem persönlichen Leben verbunden und nicht alles muss erklärt werden. Kunst funktioniert, wenn du sie auch ohne Erklärung verstehst. Ich möchte mich auch nicht immer selbst erklären. Es gab Phasen, in denen mein Vater sehr expressionistisch arbeitete, in anderen wiederum strukturiertere Stile wählte. Er entschied auch danach, in welchem Stil er fühlte, dass er mehr zu sagen hatte.
E.R.: Dein Film endet mit einer Szene aus der Stolperstein-Zeremonie in Hamburg., vor dem Gebäude des letzten Wohnsitzes deiner Großmutter. Durch dieses Ende löst du die spannungsvolle Geschichte von Sonia Wechsler auf und fügst sie in die kollektive Erinnerung ein, in diesem Fall sogar der deutschen kollektiven Erinnerung. Wieso hast du diesen Ort und diese Form der Erinnerung gewählt?
I.W.: Ich bin kein Fan von großen, öffentlichen Gesten. Sie erinnern mich immer an die politische Vereinnahmung der Geschichte, die damit einhergeht. Politiker*innen sind immer sehr stolz darauf, große Worte zu großen Anlässen zu sprechen und ersticken uns damit.
Für mich ist das Persönliche hier wirklich sehr persönlich. Ich bin mit dieser Geschichte verbunden, deshalb wollte ich eine ganz persönliche Form des Erinnerns. Dann wurde ich auf diese kleinen Steine aufmerksam, von denen es nicht besonders viele gibt und über die ich nicht viel wusste und wollte mehr erfahren. Ich verstand, dass Gunter Demnig hier ein avantgardistisches Projekt ins Leben gerufen hatte, das er mit Schüler*innen begonnen hatte, und das überzeugte mich. Ich mochte diese bescheidene und persönliche Art der Erinnerung.
Der Stolperstein gab mir die Möglichkeit zu sagen: hier lebte ein Mensch, meine Großmutter Sonia, von dem niemand etwas wusste. Und was wir nun wussten, war nichts worauf wir stolz sein konnten. Ich wollte, dass ihr an einem bestimmten Ort physisch gedacht werden konnte, an einem Ort und auf eine Weise, die keiner weiteren Erklärung bedarf. So habe ich damals empfunden und so fühle ich auch heute noch.
E.R.: In dieser Zeremonie sagst du, dass Sonias Familie, dein Vater, seine Geschwister und dein Großvater, sie in Deutschland vergessen haben. Gleichzeitig erzählt dein Film darüber, dass ihre Erinnerung unterdrückt wurde, aber sie keinesfalls vergessen, sondern immer sehr präsent war – unter anderem auch in der Kunst deines Vaters. Wie erklärst du dir diesen Widerspruch?
I.W.: Darauf habe ich meine ganz eigene Perspektive. Mein Vater war ein junger Mensch, als seine Mutter erkrankte. Seine Mutter, der er vertraute, die er liebte, zu der er mit allem was er brauchte, was ihn Beschäftigte, kommen konnte. Die sein Leben und das Leben der ganzen Familie organisierte und ihnen sagte, was zu tun war. Diese Person beginnt plötzlich sich zu verändern, zu einer Person, mit der er nicht mehr sprechen konnte, die sich aus der Welt und von ihm zurückzog. In einer solchen Situation beginnst du automatisch eine Mauer aufzubauen, um nicht verletzt zu werden. Das ist, was passiert ist. Es ist auch mir mit meiner Mutter passiert, als sie dement wurde. Wenn die Rollen in der Familie sich so austauschen und du in die Rolle eines Erwachsenen schlüpfen musst, dann bereitest du dich innerlich darauf vor, um dich selbst zu schützen. Das war ein langer Prozess der bereits Ende der 1920er Jahre begann und weit fortgeschritten war, als sie Deutschland 1935 verlassen haben.
E.R.: In deinem Dokumentarfilm hast du visuell und sprachlich eine sehr enge Verknüpfung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart erzeugt. Dadurch liegt es für die Zuschauer*innen sehr nah, das heutige Deutschland mit der Geschichte des NS zu verbinden. War das deine Intention oder reflektiert der Film hauptsächlich deine persönliche Erfahrung?
I.W.: Das ist genau der Grund, warum der Film The Voyage heißt. Ich musste persönlich überall dort hingelangen, wo meine Familie gewesen ist. Ich fühlte, dass ich, wenn ich nicht dort hingehen würde, die Geschichte nicht hätte verstehen können.
Es gab viele verschiedene Reisen in und für den Film. Als ich beispielsweise entschied, vom Bahnhof in Brandenburg/ Havel an den Gedenkort der Tötungsanstalt zu laufen, ging ich dieselbe Strecke, die meine Großmutter mit einem der typischen Busse zurückgelegt hatte, die während der Aktion T4 eingesetzt wurden. Ich bevorzuge es immer, zu laufen. Die Strecke dauert ungefähr 15 Minuten. Es war ein kalter Tag im Januar, um neun Uhr am Morgen. Die Straßen waren leer. In diesem Moment konnte ich nicht aufhören an den Bus zu denken, in dem Sonia transportiert wurde. An die Menschen in dem Bus. Es wurde ein existentieller Moment. Ich bin sehr zurückhaltend, ein solches Wort zu benutzen, aber so war es in dem Moment. Für eine Sekunde war ich Sonia. So stark war die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart für mich, während ich in Deutschland war.
E.R: Wie soll deiner Ansicht nach dein Film in Deutschland und in Israel rezipiert oder verstanden werden?
I.W.: Das ist eine sehr schwierige Frage, die ich dir anhand derjenigen Fragen beantworten könnte, die mir nach den Filmvorführungen in beiden Ländern gestellt werden. Es sind fast immer genau dieselben Fragen, in beiden Ländern. Fast genau die gleichen Fragen, die Schüler*innen in einem Gymnasium und erwachsene Zuschauer*innen stellen. Die erste Frage ist immer: „Warum hast du dich entschieden, den Film zu produzieren?“. Aus meinen Antworten entwickelte sich für mich mit der Zeit eine Art Slogan: „So personal, so universal“ Das bringt den Film auf den Punkt. Er berührt Menschen an der richtigen Stelle und das ist das Wichtigste für mich.
The Voyage
Dokumentarfilm
Israel, 2021
70 Minuten
Hebräisch, Englisch, Deutsch
Regisseur: Itamar Wexler
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