Bundeskanzlerin Angela Merkel besichtigt die Ausstellung „Blitze der Erinnerung" zusammen mit Premierminister Naftali Bennet, dem Vorsitzenden von Yad Vashem, Dani Dayan und dem Vorsitzenden des Yad Vashem Beirats Rabbiner Israel Meir Lau
(L-R) Rabbi Israel Meir Lau, Premierminister Naftali Bennet, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Dani Dayan bei einer Tour durch das Kunstmuseum
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Premierminister Naftali Bennet sitzen mit dem Überlebenden des Kindertransports Henry Foner
Der Direktor der Objektsammlung von Yad Vashem, Michael Tal, präsentiert die Geschichten einzelner Objekte aus der Yad Vashem-Sammlung
10 Oktober 2021
Heute, 10. Oktober 2021, besuchte die Bundeskanzlerin Angela Merkel Yad Vashem zum sechsten und letzten Mal als deutsche Regierungschefin. Während ihres Besuchs auf dem Berg der Erinnerung wurde die Bundeskanzlerin durch die Ausstellung „Blitze der Erinnerung – Fotografie zur Zeit des Holocaust“ und das Kunstmuseum geführt. Des Weiteren wurden ihr Objekte und Kunstwerke aus der Zeit des Holocaust aus Yad Vashems Sammlungen vorgestellt und sie traf den Holocaust-Überlebenden Henry Foner.
Begleitet wurde Merkel bei ihrem Besuch von Israels Ministerpräsident Naftali Bennet, dem Vorstandsvorsitzenden von Yad Vashem, Dani Dayan, und dem Vorsitzenden des Yad Vashem-Beirates Rabbiner Israel Meir Lau.
Nach einer Gedenkzeremonie in der Halle des Gedenkens bat Bundeskanzlerin Merkel um persönliche Zeit im Museum zur Geschichte des Holocaust, um sich der Erinnerung an die sechs Millionen jüdischen Männer, Frauen und Kinder, die im Holocaust ermordet wurden, und einigen der Geschichten der Überlebenden zu widmen.
Am Ende des Besuchs überreichte der Vorsitzende von Yad Vashem, Dani Dayan, der Kanzlerin als Erinnerung eine Nachbildung des Albums und Gesamtwerks von Carol Deutsch, die sie zuvor im Kunstmuseum gesehen hatte.
Premierminister Naftali Bennet dankte Merkel für ihre unerschütterliche Unterstützung des Gedenkens an den Holocaust und erklärte:
„Das Ziel der Nazis war es, eine Einöde zu hinterlassen – eine vollständige Auslöschung unseres Volkes. Aber wenn Sie Yad Vashem verlassen und die Worte des Propheten Sacharja sehen: ‚und der Stadt Gassen soll sein voll Knaben und Mädchen, die auf ihren Gassen spielen’, erkennen Sie, dass die Katastrophe zwar groß war, aber das Wunder noch größer… Der Holocaust ist nicht der Grund für die Existenz des Staates Israel. Die Verbindung des jüdischen Volkes mit seinem Land begann nicht in Auschwitz. Aber Auschwitz, unsere dort verlorenen Brüder und Schwestern, bestärken in uns die Entschlossenheit, nie wieder ein wehrloses Volk fernab seiner Heimat zu sein. Für mich als gläubiger Jude, als Israeli, als jemand, dessen Familienzweige im Holocaust abgeschnitten wurden, als Ministerpräsident Israels führen alle Wege nach Jerusalem.
Zum Abschluss des Besuchs schrieb Bundeskanzlerin Merkel in das Gästebuch von Yad Vashem:
„Jeder Besuch in Yad Vashem berührt mich aufs Neue im Innersten. Die hier dokumentierten Verbrechen gegen das jüdische Volk sind uns Deutschen immerwährende Verantwortung und Mahnung. Dass jüdisches Leben nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah in Deutschland wieder eine Heimat gefunden hat, ist ein unermesslicher Vertrauensbeweis - für den wir dankbar sind. Dieses Vertrauen veranlasst uns dazu, täglich entschieden gegen Antisemitismus, Hass und Gewalt vorzugehen. Dies ist Verpflichtung für jede Bundesregierung."
Blitze der Erinnerung – Fotografie zur Zeit des Holocaust
Während ihrer Führung durch die Ausstellung „Blitze der Erinnerung" wurde der Bundeskanzlerin gezeigt, wie die Verwendung fotografischer Dokumentation eine zentrale Rolle für die Fähigkeit der NSDAP spielte, eine Nation gegen das jüdische Volk zu polarisieren und somit den Weg ebnete für die Verbrechen des Holocaust. Die Ausstellung zeigt drei verschiedene Aspekte: Die deutsche Perspektive – die Propaganda der NSDAP, die Juden als böswillige Untermenschen darstellte, die aus der Gesellschaft entfernt werden müssten; die jüdische Erfahrung – die das Leiden und die Menschlichkeit der Opfer hervorhob; und die fotografische Dokumentation der Gräueltaten durch die alliierten Armeen – Beweise für die Schrecken, die das jüdische Volk bei der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis erlebten.
Kunstmuseum
Das Kunstmuseum beherbergt Kunstwerke – eine Form der visuellen Dokumentation und des Zeugnisses –, die von Juden vor, während und unmittelbar nach dem Holocaust geschaffen wurden. Die Werke der einzigartigen Kunstsammlung von Yad Vashem zeigen die Gräueltaten der Deutschen und ihrer Kollaborateure während des Holocaust, wie sie von den Künstlern erlebt wurden, sowie Stücke, die an Opfer erinnern und die Sehnsüchte nach Freiheit und Normalität darstellen. Im Museum wurde der Kanzlerin eine bemerkenswerte Sammlung von Werken des jüdischen Künstlers und Opfer des Holocaust Carol Deutsch gezeigt. 1941 schuf er mitten im Krieg in Antwerpen- trotz Ausgangssperre und Verfolgung - eine Reihe von 99 Kunstwerken, die Geschichten und Figuren aus dem Alten Testament illustrierten. Diese einzigartige Sammlung, ein Beweis seiner stolzen jüdischen Identität, schenkte Deutsch seiner zweijährigen Tochter Ingrid. Die farbenfrohen Illustrationen sind beeinflußt vom Jugendstil ebenso wie vom Stil der Bezalel-Schule, mit dem der Maler während seines Aufenthalts im Heiligen Land 1935 vertraut geworden war.
Deutsch hatte 1939 Felicia (Fela) Bronsztajn geheiratet, ein Jahr später wurde Ingrid geboren. Zwischen 1942 und 1943 versteckte sich das Paar in einer ländlichen Gegend in der Nähe von Brüssel, wurde jedoch verraten, verhaftet und im September 1943 nach Auschwitz deportiert. Fela wurde dort ermordet. Carol wurde nach Sachsenhausen transferiert und von dort weiter nach Buchenwald. Er starb am 20. Dezember 1944 im Buchenwald-Außenlager Ohrdruf an Erschöpfung. Ingrid und ihre Großmutter versteckten sich an einem anderen Ort und überlebten.
Yad Vashem Objektsammlung
Die Generaldirektorin von Yad Vashem, Dorit Novak, informierte Bundeskanzlerin Merkel bei ihrem Rundgang auf dem Berg der Erinnerung über den neuen Moshal Vermächtnis-Campus und sein Haus der Sammlungen, dessen Bau teilweise von der Bundesrepublik Deutschland gefördert wird. Der Direktor der Yad Vashem Objektsammlung, Michael Tal, zeigte der Kanzlerin mehrere Objekte aus der Zeit des Holocaust, die nach seiner Fertigstellung im Haus der Sammlungen aufbewahrt werden sollen:
Der Schuh von Hinda Cohen
Am 18. Januar 1942 wurde Hinda Cohen als Tochter von Zippora und Dov Cohen im Ghetto Kaunas (Kovno) geboren. Sowohl Zippora als auch Dov arbeiteten wie viele Erwachsene im Ghetto im nahe gelegenen Zwangsarbeitslager Aleksotas.
Am Morgen des 27. März 1944 gingen Dov und Zippora zur Arbeit und ließen ihre kranke, zweijährige Tochter mit einigen der älteren Frauen im Ghetto zurück. Ohne das Wissen der arbeitenden Erwachsenen wurden an diesem Tag etwa 300 Kinder, darunter Hinda, zusammengetrieben, auf Lastwagen verladen und nach Auschwitz deportiert, wo sie gleich nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Als die Eltern von der Arbeit zurückkamen, stellten sie mit Entsetzen fest, dass ihre Tochter spurlos verschwunden waren. Untröstlich brachen Dov und Zippora auf dem Boden zusammen. Unter Hindas Bett bemerkte Dov Hindas Schuhe. Er beschloss, das Datum ihrer Deportation auf die Sohle eines der Schuhe zu gravieren und schwor, dass der Schuh für den Rest seines Lebens bei ihm bleiben würde.
Sowohl Dov als auch Zippora überlebten den Krieg, kamen jedoch nie über den Verlust von Hinda hinweg. Nach dem Krieg bekam das Paar eine weitere Tochter, und 1960 wanderte die Familie Cohen nach Israel aus. Nach dem Tod von Zippora und Dov erfüllte ihre Enkelin den Wunsch ihrer Großeltern und schenkte Yad Vashem den Schuh sowie die Fäustlinge, die Hinda gehörten, damit ihre Geschichte für die Nachwelt festgehalten werden konnte.
Kandelaber aus der Großen Synagoge in Hamburg
Am Abend des 9. November 1938 brachen Randalierer in Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen in ganz Deutschland und Österreich ein, richteten Verwüstung an und setzten Gebäude in Brand. Während dieses Novemberpogroms, auch bekannt als Reichspogromnacht, wurden Tausende von Juden zusammengetrieben und in Konzentrationslager in Deutschland gebracht.
Die Juden in Hamburg, der Geburtsstadt von Angela Merkel, haben unter diesem Pogrom sehr gelitten. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaute Große Synagoge in Hamburg wurde verwüstet und in Brand gesteckt. Das einst verheißungsvolle Zentrum jüdischen Gemeindelebens in der Stadt wurde in Schutt und Asche gelegt und blieb so für etwa ein Jahr, bis es von der Stadt Hamburg – mit Mitteln der jüdischen Gemeinde – abgerissen wurde.
Menachem Schloss, der mit seinen fünf Kindern in Hamburg lebte, betete regelmäßig in der Synagoge. Während des Novemberpogroms wurde er verhaftet, aber einige Zeit später dank der Hilfe eines ihm bekannten Nazi-Offiziers wieder freigelassen. Kurz nach diesen traumatischen Ereignissen erhielt die Familie Schloss die seit vielen Jahren erhofften Einwanderungsvisa in die USA und floh aus Deutschland. Vor der Ausreise überreichte die jüdische Gemeinde Schloss diesen Kandelaber, der vor dem Abriss aus der Synagoge gerettet worden war. Später schenkte die Familie Yad Vashem diesen kostbaren Gegenstand, um das Andenken an die Hamburger Juden für künftige Generationen zu bewahren.
Gebetbuch geschrieben von Dita Kurschner
Dita Kurschner wurde 1930 in Wien geboren. 1939 floh ihre Familie nach Ungarn. Kurz nach dem deutschen Überfall auf Ungarn im März 1944 wurden sie in einem Ghetto interniert. Im Juni 1944 wurden sie in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.
Nach ihrer Ankunft in Auschwitz wurde Kurschner für die Überstellung in das Arbeitslager Gelsenkirchen selektiert und von dort in das Lager Sömmerda gebracht. Während ihrer Haft in Sömmerda stahl Kurschner Aufkleber aus Munitionskisten und schrieb darauf einen Siddur, ein Kompendium jüdischer Gebete, die sie von einer Mitgefangenen namens Klari Kahna hörte. „Sie hat Tag und Nacht gebetet", erinnerte sich Kurschner in ihrer Aussage. „Ich lauschte ihren Gebeten und dachte, dass ich sie aufschreiben müsste für den Fall, dass, wenn wir sterben würden, bekannt wäre, dass hier mal Jüdinnen waren. Die ganze Nacht saß ich neben ihr und schrieb. Sie betete in biblischem Hebräisch und ich notierte alles in lateinischen Buchstaben."
Kurz vor Kriegsende wurden die Lagerinsassen auf einen Todesmarsch geschickt. Kahna wurde am Tag ihrer Befreiung bei einem Bombardement getötet. Dita Kurschner, ihre Mutter Hedy und die 15-jährige Zsuzsana (Zsuzsi) Weber, die Hedy in Auschwitz adoptiert hatte, wurden in Reinholdshain befreit (Ditas Vater Lajos war ermordet worden). Später wanderte die Familie nach Israel aus. Viele Jahre später spendeten sie Kurschners Siddur an Yad Vashem, um ihn mit Zehntausenden anderen Objekten in den Sammlungen von Yad Vashem aufzubewahren, damit ihre Geschichten weiter erzählt werden.
Treffen mit einem Holocaust-Überlebenden
Die Bundeskanzlerin traf sich mit dem Kindertransport-Überlebenden Henry Foner, dem renommierten Autor von „Postkarten für einen kleinen Jungen“ – einem authentischen, bewegenden Buch, das die illustrierten Postkarten und Briefe präsentiert, die Henrys Vater und andere Verwandte und Freunde an den jungen Flüchtling in Großbritannien geschickt haben. Das Buch enthält auch die Übersetzungen des Briefwechsels und ein historisches Nachwort über die Rettungsaktion des Kindertransports.
Als Heinz Lichtwitz in Deutschland geboren, verlor Henry Foner schon in jungen Jahren seine Mutter. Als sich die Lage der Juden in Deutschland und Österreich verschlechterte, entstanden Pläne, möglichst vielen Kindern an einem anderen Ort Zuflucht zu verschaffen, und so begannen die Kindertransporte. Die Kinder wurden auf ihrer Reise von Betreuern, Sozialarbeitern und Erziehern begleitet und bei Familien oder in anderen Einrichtungen im Vereinigten Königreich untergebracht. Foner war eines von etwa 10.000 jüdischen Kindern, die zwischen Dezember 1938 und September 1939 im Rahmen der Rettungsaktion Europa verließen. Er wurde von Berlin nach Wales geschickt und lebte dort mit Morris und Winifred Foner, einem jüdischen Ehepaar, das ihm ein warmes, liebevolles Zuhause bot. Von dem Moment an, als sie sich trennten, schickte Max Lichtwitz, Henrys Vater, ihm regelmäßig farbenfrohe illustrierte Postkarten in deutscher Sprache. An Henrys siebtem Geburtstag rief Max ihn aus Berlin an, doch Henry hatte sein Deutsch schon ganz vergessen. Von da an schrieb er alle Postkarten auf Englisch. Henrys Pflegemutter „Aunty Winnie" ordnete alle Postkarten und Briefe, die Henry von seinem Vater und anderen Verwandten und Freunden erhielt, in einem Album. Max Lichtwitz, der den Mut und die Weitsicht hatte, sich von seinem einzigen Kind zu trennen und damit sein Leben zu retten, wurde am 9. Dezember 1942 nach Auschwitz deportiert und eine Woche später ermordet. Henry und seine Familie zogen 1968 nach Israel und ließen sich in Jerusalem nieder.