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Die Ereignisse des Jahres 1938, das in einem deutschen Dokument als das „schicksalhafte Jahr“ bezeichnet wurde, führten zu einer Radikalisierung in der Politik der Nationalsozialisten gegenüber den Juden, zu einer allgemeinen Verschärfung ihrer Expansionspolitik und zu einer beschleunigten Vorbereitung für einen Kriegsbeginn. Die Verschärfung der Politik gegenüber den Juden war somit Teil eines politischen und ideologischen Ganzen. Im Laufe des Jahres 1938 wurde der Verkaufszwang jüdischen Eigentums und seiner Registrierung zum Zweck der Enteignung verschärft. Gemäß den Worten des nationalsozialistischen Wirtschaftsministers Walter Funk gelang es den Behörden bis 1938 jüdisches Eigentum im Wert von zwei Milliarden Reichsmark zu rauben. Der Hauptteil des im Rahmen dieser Politik, der „Arisierung“, enteigneten Eigentums wurde nicht in den Staats- oder Parteibesitz überführt, sondern in die Hände vieler einzelner Deutscher, die damit zu Komplizen wurden und sie manchmal auch dazu bewegte, sich mit der anti-jüdischen Politik des Regimes zu identifizieren.
Mit der Annexion Österreichs an Nazi-Deutschland (dem „Anschluss“) ging eine noch nie dagewesene Welle von Übergriffen und Demütigungen gegen die Juden Wiens einher. Kurze Zeit später wurde in Wien die sogenannte „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, unter der Leitung von Adolf Eichmann, errichtet. In ihrem Rahmen wurde zum ersten Mal systematisch die nationalsozialistische Politk des Auswanderungszwangs für Juden bei gleichzeitiger Enteignung ihres Eigentums umgesetzt. Zwischen 1938 und November 1941 gelang es ihm, etwa 128.000 der österreichischen Juden zu vertreiben, während sie den Großteil ihres Eigentums zurücklassen und komplett besitzlos das Land verlassen mussten. Diese Politik wurde danach auch in Deutschland selbst angewandt.
Am 5. Oktober 1938 wurden die Pässe der Juden für ungültig erklärt, und denen, die einen Pass für die Emigration benötigten, wurde ein Pass mit der Kennzeichnung „J“ (Jude) ausgestellt. Ein weiteres Gesetz aus dem Jahr 1938 verpflichtete die Juden, deren Namen nicht „typisch jüdisch“ waren, ihrem Vornamen einen jüdischen Namen hinzuzufügen: Männer wurden gezwungen den Namen „Israel“ hinzuzufügen, und Frauen den Namen „Sarah“, um sie nur anhand dessen identifizieren zu können.
Am 27. Oktober 1938 begann das nationalsozialistische Deutschland mit der ersten Massendeportation von Juden. Die Aktion war gegen Juden polnischer Staatsbürgerschaft gerichtet und wurde mit großer Brutalität durchgeführt. Die Vertriebenen – etwa 17.000 Kinder, Alte und Kranke – wurden von SS-Männern über die polnische Grenze abgeschoben, ein großer Teil von ihnen wurde im Niemandsland nahe der polnischen Grenzstadt Zbaszyn in verlassenen Ställen zusammengepfercht.
Die Deportation nach Zbaszyn stand in direktem Zusammenhang mit dem Novemberpogrom - einer zentralen antijüdischen Aktion, die am 9. und 10. November 1938 stattfand. Die nationalsozialistische Propaganda behauptete, dass dieser Ausbruch spontan gewesen war, in Wirklichkeit handelte es sich aber um eine von der nationalsozialistischen Führung geplante und ausgeführte Aktion. Das Zeichen gab der Propagandaminister Joseph Goebbels, und verschiedene Arme des Nazi-Regimes führten sie aus. In diesem Pogrom wurden 91 Juden ermordet, mehr als 1.400 Synagogen in ganz Deutschland verbrannt, jüdische Geschäfte und Betriebe geplündert und zerstört. Außerdem wurde von den Juden verlangt, für die Schäden Schadenersatz zu zahlen. In den Tagen nach dem Pogrom wurden etwa 30.000 jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager gesperrt. Das Ziel ihrer Gefangenschaft war es, den Druck zur Emigration zu verstärken, was eine weitere Radikalisierung in der Politik der Zwangsemigration von Juden bedeutete.
Mehr als 300.000 der halben Million Juden, die in Deutschland bei Hitlers Machtantritt gelebt hatten, fanden schließlich bis zum Beginn der „Endlösung“ Zuflucht in der Emigration. Die internationalen jüdischen Organisationen, die nationalen Verbände der Juden Deutschlands und die zionistische Bewegung hatten erheblichen Anteil an der Förderung der Emigration. In Folge des Pogroms vom November 1938 wurde die jüdische Emigration aus Deutschland, Österreich und Tschechien, die 1938 und Anfang 1939 an Deutschland annektiert worden waren, beschleunigt. Die rigorosen Beschränkungen, die die Staaten der Welt für die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge eingeführt hatten, waren aber ein Hindernis für eine umfangreichere Auswanderung aus Deutschland, und danach auch aus anderen Ländern unter nationalsozialistischer Herrschaft.
Infolge der Kritik, die über seine Einwanderungspolitik laut wurde, berief der amerikanische Präsident Franklin Roosevelt die Konferenz von Evian ein, um über das Problem der Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich zu beraten. Im Juli 1938 trafen sich die Vertreter 32 Staaten in dem französischen Urlaubsort am Ufer des Genfer Sees. Alle Teilnehmer legten zwar Lippenbekenntnisse ab und drückten ihre Anteilnahme am Leid der Flüchtlinge aus, aber verkündeten dann einer nach dem anderen, dass ihre Länder sie nicht aufnehmen könnten. Der Vertreter Australiens gab folgende Stellungnahme: „In der gegenwärtigen Situation kann Australien nicht mehr tun... Da bei uns kein wirkliches Rassenproblem existiert, haben wir auch nicht vor, ein solches zu importieren.“ Während die britische Regierung die Tore zu Palästina vor jüdischer Einwanderung und Besiedlung schloss, versuchten die verzweifelten Juden in jedes nur mögliche Land auszureisen. Einige tausend Juden emigrierten nach Shanghai in China zu einer Zeit, als die Tore der meisten Staaten vor ihnen verschlossen wurden. England selbst nahm in den Monaten nach dem Novemberpogrom knapp 10.000 jüdische und christliche nicht-arische Kinder im Rahmen der sogenannten „Kindertransporte“ auf.