Im September 1942, als Vorbereitungen getroffen wurden, das Tuczyner Ghetto zu liquidieren, Entschloss sich Familie Khomut, nach Szubkow zu fliehen. Ihr Versuch scheiterte, und die Familie musste in ihr Haus im Ghetto zurückkehren. Zu ihrer großen Überraschung erschien am folgenden Tag Gerasimchik an ihrer Tür und bot an, die Familie für kurze Zeit bei sich zu Hause zu verstecken. Die Khomuts nahmen Gerasimchiks Angebot an, und bei Einbruch der Dunkelheit verließen Khomuts Frau Polina und ihre achtjährige Tochter Lara heimlich das Ghetto und wurden von Pavlo in sein Dorf gefahren, verborgen unter dem Stroh in seinem Karren. Einige Tage später, nach der Liquidierung des Ghettos, stieß Khomut zu Frau und Kind. Hanele, die älteste Tochter der Khomuts, war einer anderen Familie anvertraut worden, die versprochen hatte, sie zu retten. Wie sich leider herausstellte, gaben sie sie den Behörden preis, und sie wurde ermordet.
Angesichts der Gefahr, die allen drohte, die Juden versteckten, war die Entscheidung, eine jüdische Familie aufzunehmen, wahrscheinlich sehr schwer für Gerasimchik. Indem er sich bereiterklärte, die Juden zu retten, brachte er nicht nur sich selbst, sondern auch seine gesamte Familie in Gefahr. Tatsächlich wurde in der Gegend wiederholt intensiv nach Juden gefahndet, und wer dabei gefasst wurde, Juden Unterschlupf zu gewähren, bezahlte mit seinem Leben. Gerasimchik war sehr beunruhigt, sich selbst und seine Familie in Gefahr gebracht zu haben. Kurz nach der Ankunft der Familie Khomut erinnerte er sie daran, dass er sie nur für kurze Zeit zu sich nach Hause eingeladen habe und bat sie, zu gehen. Als er jedoch die jüdische Familie dabei beobachtete, wie sie sich anschickte, die relative Sicherheit seines Hauses zu verlassen, um sich in den sicheren Tod zu begeben, besann er sich eines anderen, und anstatt seine Schützlinge weiterziehen zu lassen, begann er, ihnen unter dem Dreschboden ein Versteck einzurichten.
Was mit dem Angebot kurzzeitigen Schutzes begann, endete damit, dass Gerasimchik die Familie Khomut für die gesamte Dauer der Besetzung versteckte. 18 Monate lang lebte die jüdische Familie heimlich in zwei Verstecken auf dem Anwesen der Gerasimchiks. Gerasimchiks Frau und Kinder spielten eine aktive Rolle bei der Sorge für die jüdische Familie und ihrer Rettung. Sie brachten ihnen zu essen und reinigten täglich ihr Nachtgeschirr. Nachts standen sie Wache, während ihre Schützlinge kurz ihr Versteck verließen, um etwas frische Luft zu schnappen. Die ganze Familie Gerasimchik arbeitete hart, um für die zusätzlichen Esser Nahrung zu beschaffen – kein leichtes Unterfangen zu Kriegszeiten. Gegen Ende der Besetzung, als die Deutschen im Rückzug begriffen waren, quartierten sich 15 deutsche Soldaten auf Gerasimchiks Grundstück ein. Sie wohnten auf dem Dreschboden, genau über den Köpfen der versteckten Juden. Fast zwei Wochen lang, bis die Rote Armee am 15. Februar 1945 die Gegend befreite, konnten die Gerasimchiks der Familie Khomut keine Nahrung bringen.
Nach der Befreiung gab Gerasimchik die goldene Uhr zurück, die die Khomuts ihm gegeben hatten, als sie bei ihm einzogen. Die Khomuts wanderten schließlich in die Vereinigten Staaten aus.
Am 15. März 1990 wurden Pavel und Lyubov Gerasimchik durch Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern anerkannt. Der Titel wurde ihren Kindern Klavdiya Kucheruk, Galina Gavrishchuk und Nikolay GerasimchIk am 6. Dezember 1999 verliehen.
Historischer Hintergrund
Tuczyn liegt in Wolhynien, einem Bezirk in der nord-östlichen Ukraine. Als die Deutschen die Stadt am 6. Juli 1941 besetzten, veranstalteten die Ukrainer sofort ein Pogrom und ermordeten 70 Menschen. Am nächsten Tag töteten die deutschen „Einsatzgruppen“ weitere 30 Juden. 1942 wurden die 3000 Tuczyner Juden in ein Ghetto gesperrt. Die Juden organisierten eine Widerstandsgruppe, und als am 24. September 1942 deutsche und ukrainische Polizisten eindrangen, um das Ghetto zu liquidieren, begann die kleine Untergrundorganisation zu schießen und Häuser in Brand zu stecken. In dem Durcheinander, das darauf folgte, gelang es etwa 2000 Juden, zu fliehen. Die meisten wurden gefasst und ermordet; nur eine kleine Anzahl überlebte den Holocaust.
Aus der Zeugenaussage Isaak Khomuts
... Wir waren in unsere traurigen Gedanken versunken, als plötzlich Pavel kam. Es war ihm peinlich, als ob er sich für die Taten seiner Nachbarn schämte. Er hatte von dem Ghetto gehört, und es war klar, dass dies unseren Tod bedeuten würde. Es war nicht leicht, Sympathie für das Schicksal der Juden zum Ausdruck zu bringen, und er dachte darüber nach, was er in diesem kritischen Moment für uns tun könnte. Wir sagten ihm, dass wir das Ghetto verlassen wollten, wenigstens für ein paar Tage, um zu sehen, wie sich die Dinge entwickelten. Pavel sah unsere Not und sagte, wenn wir für kurze Zeit ein Obdach bräuchten, könnten wir zu ihm kommen...
Pavel hatte große Angst [nach der Ankunft bei ihm zu Hause], besonders, als er das Ghetto in Flammen aufgehen sah, doch er tat alles, was in seinen Kräften stand, um meine Frau und Tochter zu beruhigen. Er brachte sie in die Scheune und versteckte sie im Stroh. Als es ihnen zu heiß wurde, brachte er sie auf den Heuhaufen in der Scheune. Dort fand ich sie vor, als ich ins Dorf kam. Er hatte sie mit Essen und Trinken versorgt. Ich begriff, dass Pavel ein guter Mensch war. Er wusste, dass seine Hilfe für uns seine ganze Familie gefährdete. Ich hatte noch nie einen so feinfühligen und sensiblen Menschen gesehen. Pavel war nicht sehr glücklich über meine Ankunft. Er fürchtete, seine Nachbarn hätten mich kommen sehen, aber ich sagte ihm, dass ich unbemerkt angekommen sei. Er erinnerte sich auch, dass ich nur um kurzzeitige Unterbringung gebeten hatte. Er war einverstanden, dass wir blieben, bis wir einen Ausweg fänden. Er dachte, die Befreiung stünde kurz bevor. Es kam uns nie in den Sinn, dass wir so lange bleiben würden...
Wir beschlossen, sein Haus am Sonntag zu verlassen und nach Tuczyn zu gehen. Wir glaubten nicht, dass es helfen würde, ihn inständig zu bitten, uns bleiben zu lassen, da wir gesehen hatten, wie nervös es seine Frau machte, dass er uns ins Haus gebracht hatte. Pavel hatte große Angst vor Denunzianten. Und vor allem wusste er, dass er ein armer Bauer war, der kaum über die Runden kam. Was er uns zu essen gab, ging auf Kosten seiner Familie. Plötzlich hörten wir Schüsse aus Richtung Tuczyn. Wir hatten große Angst... Pavel beschloss, nach Tuczyn zu gehen um herauszufinden, was los war. Er kam deprimiert zurück. Bei seiner Rückkehr sagte er zu uns, dass wir bei ihm würden bleiben müssen, denn es gäbe keine andere Zuflucht... Wir sagten zu Pavel, dass er uns nicht bei sich behalten könne, da er uns sein eigenes Brot gab. Er sagte, er könne uns in solchen Zeiten nicht aus seinem Haus vertreiben. Pavel befürchtete, einer seiner Nachbarn würde unsere Anwesenheit bemerken. Darum richtete er ein Versteck unter dem Heu im Hof ein. Wir mussten uns wie Tiere im Stroh verstecken. Es war sehr eng. Tagsüber war es sehr heiß, und es roch nach dem Topf, den wir für unsere Notdurft benützten und der immer in unserer Nähe war. Nachts leerte Pavel den Behälter aus und brachte ihn zurück. Es war sehr unangenehm, Pavel das für uns tun zu lassen. Wir saßen mehrere Wochen lang in dem Versteck. Wir konnten nicht waschen oder unsere Kleidung wechseln. Wir hatten Läuse und kratzten uns. Aber wir mussten uns an dieses Leben gewöhnen. Wir machten ein kleines Loch in den Heuhaufen, um etwas frische Luft und Licht zu bekommen...
Am 4. November 1942 fand das letzte Massaker statt. Meine liebe Tochter Hanele wurde ermordet. Nach dem Massaker wurde angekündigt, dass jeder, der einen Juden versteckte, mit seiner Familie hingerichtet und sein Hof niedergebrannt würde. Nach diesem Erlass geriet Pavel in Panik und setzte uns unter Druck, in den Wald zu gehen. Pavel hatte ein schlechtes Gewissen, als er uns weinen sah. Er ging und bedeckte das Loch mit einem Sack. Einige Tage vergingen. Wir dachten pausenlos darüber nach, einen Ausweg zu finden. Wir wollten unseren guten Pavel von der Last befreien und von der Furcht, die wir ihm und seiner Familie bereiteten. Plötzlich hörten wir den Hund bellen. Wir wussten, dass der Hund nur bellte, wenn sich Fremde dem Haus näherten, und bald sahen wir zwei ukrainische Polizisten auf uns zukommen. Sie umkreisten den Hof und blieben neben unserem Heuhaufen stehen. Sie fragten Pavel aus, ob er hier oder beim Nachbarn Juden gesehen hätte. Pavel wurde es unbehaglich, und er sagte, er hätte seit langer Zeit keine Juden gesehen. Die Polizisten sagten, sie hätten einen Bericht über Juden, und dass er seine Schuld lieber eingestehen solle. Pavel stritt nachdrücklich alles ab. Die Polizisten gingen weg. Kurz darauf sah ich ukrainische Polizisten Leibl Briman, seine Frau, die Lehrerin Genia, ihren zweijährigen Sohn und die Schwester seiner Frau abführen. Pavel fand später heraus, dass sie in einem Heuhaufen genau wie unserem auf einem Bauernhof in der Nähe gefunden worden waren.
Die Situation wurde schlimmer. Es gab Fälle von ganzen christlichen Familien, die getötet wurden, weil sie Juden versteckt hatten. Wir konnten nicht bleiben...
Eines Abends brachte Pavel uns Essen und sagte, es sei ihm klar, dass wir nirgendwo sonst unterkommen würden. Er verstehe unsere Angst vor einem Leben im Wald und habe deswegen beschlossen, in der Scheune ein Loch für uns zu graben, so dass wir uns dort würden verstecken können, bis die Gefahr vorüber sei. Natürlich half ich ihm beim Graben. Wir gruben die ganze Nacht hindurch bei der Scheune. Der Eingang [zu dem Loch] war in der Scheune. Pavel schüttete den Sand, den wir ausgegraben hatten, in den Fluss, so dass keine Spuren [des Grabens] zu sehen wären. Jede Veränderung hätte Verdacht erregen können. In dieser Nacht zogen wir in das Loch um. Die Bedingungen dort waren schrecklich. Es war feucht und ohne Luft. Als ich Pavel von den Problemen berichtete, schlug er vor, wir sollten uns im Stroh in der Scheune verstecken. Wir richteten uns im Stroh ein. Wir konnten nur liegen, denn wenn wir uns aufsetzten, schauten unsere Köpfe aus dem Stroh hervor. Trotz der harten Umstände verbrachten wir 16 Monate im Stroh...
Pavels finanzielle Situation war schrecklich. Er hatte einen kleinen Bauernhof und kleine Kinder. Er bewirtschaftete den Hof ganz allein. Es war kein Wunder, dass er uns nicht wirklich ernähren konnte. Unsere Haupt-Nahrung bestand aus in der Schale gekochten Kartoffeln... Manchmal litten wir im Sommer unter der Hitze und hatten kein Wasser zu trinken. Pavel hatte kein Wasser gebracht, weil er Kinder in der Nähe spielen sah und Angst hatte, sie würden ihn Essen in die Scheune bringen sehen. Sie würden es ihren Eltern erzählen, und das würde das Ende für uns und für seine Familie bedeuten. Es ist interessant festzustellen, dass wir trotz der schwierigen Umstände, trotz der vielen gefährlichen Augenblicke und trotz des Verlustes der Hoffnung, jemals wieder ein normales Leben führen zu können, nicht sterben wollten. Mehr als einmal fühlten wir die Nähe des Todes. Die ukrainische Polizei führte oft Razzien in der Nachbarschaft durch. Jedesmal, wenn sie einen Juden schnappte, wurde die Suche intensiver...
Als die Deutschen bereits auf dem Rückzug waren, hoben sie entlang des Flusses Schützengräben aus. Sie richteten ihr Quartier in Pavels Haus ein. Fünfzehn Soldaten waren für die Dauer von 12 Tagen in der Scheune stationiert. Sie räkelten sich auf dem Heu, unter dem wir uns versteckten. Wir waren in einem Zustand ständiger Alarmbereitschaft. Wir wussten, dass wir nicht niesen oder husten durften. Meine Frau und ich waren ständig wach. Wir hatten Hunger und Durst. Pavel konnte sich uns nicht nähern. Die Wachtmänner standen die ganze Nacht hindurch über der Öffnung. Und wieder, ein Wunder...
Am 15. Februar 1945 wurde die Gegend befreit. Wir blieben noch ein paar Tage in unserem Versteck. Wir warteten, bis die Situation sich stabilisiert hatte. Die Mörder wüteten noch. Wir wollten wissen, ob es außer uns überlebende Juden gab und wie die Sowjets die Juden behandelten.
Einige Tage später hörte Pavel, es seien ein paar Juden in Tuczyn. Wir bereiteten uns vor, in unsere zerstörte Stadt zurückzukehren.
Wir mussten die Mauern entlang gehen. Unsere Beine bewegten sich kaum. Wir sahen uns vor, nicht von den Dorfleuten entdeckt zu werden. Die ukrainischen Mörder töteten gnadenlos Juden, weil sie Angst hatten, diese würden gegen sie aussagen. Es muss erwähnt werden, dass manche Juden, die die Nazi-Hölle überlebt hatten, nach der Befreiung von Ukrainern ermordet wurden. Ich möchte nochmals die edle Haltung Pavels und seiner Frau unterstreichen. Nicht nur wollten sie keine Bezahlung für die Nahrung, die sie uns gegeben hatten, sie gaben uns auch Kleidung und Proviant auf den Weg. Meine Frau hatte Pavel bei ihrer Ankunft eine goldene Uhr gegeben, und als wir aufbrachen, gab er sie ihr zurück. Pavel und seine Frau waren glücklich, als sie uns nach der schrecklichen Qual ihr Haus verlassen sahen.
In Tuczyn fanden wir nur noch 12 Juden vor. Es ist schwer, das Wiedersehen mit den Überbleibseln dessen, was einmal eine lebenssprühende Gemeinde gewesen war, zu beschreiben. Jeder erzählte seine traurige Geschichte. Wir weinten, als wir unserer Lieben gedachten, die eines schrecklichen Todes gestorben waren. Erst dann empfanden wir die schreckliche Einsamkeit. Wir wurden durch die russische Polizei alle zusammen in einHaus gesteckt. Noch immer wüteten Mörderbanden, und wir fürchteten uns vor einem Angriff.
Wir haben nie auch nur für eine Minute die schreckliche Katastrophe vergessen, die uns und unsere unschuldigen Lieben, die gequält und ermordet wurden, befallen hat. Wir bezeugen Achtung vor unserem guten Freund Pavel Gerasimchik und seiner Familie, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt und uns vor dem sicheren Tod gerettet haben...
Aus der Zeugenaussage von Laura Oberlander
Dann, sechs Wochen vor der Befreiung, können Sie sich vorstellen, dass die deutschen Soldaten ihren Standort ausgerechnet in unserer Scheune bezogen?... Sie ergriffen Besitz von dem Bauernhof... Die deutschen Soldaten schliefen auf dem Heu. Pavlo bestand darauf, dass sie ihre Pferde in der Scheune unterbrächten, damit sie, falls sie etwas hörten, glauben würden, es seien die Pferde... Es waren eine ganze Menge deutscher Soldaten über uns, und wir konnten sie an ihren Zigaretten ziehen hören. Sechs Wochen lang hatte mein Vater ständig seine Hand auf meinem Mund und auf meiner Nase. Gott behüte, dass man niesen wollte. Oder husten. Oder irgendetwas...