Im Februar 1925 gaben sich Friedrich-Lazer-Ephraim Bader und Sara Sibirski in Köln das Ja-Wort. Zu diesem Zeitpunkt blickte der gebürtige Kölner bereits auf einen bewegten Lebensabschnitt zurück: Als Soldat hatte er im Ersten Weltkrieg in der deutschen Armee gedient und an der Westfront gekämpft, von der er verwundet zurückkehrte. Für seinen Einsatz wurde Friedrich mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.
Friedrichs Alltag nach dem Krieg war zweigeteilt: Unter der Woche reist er als Vertriebsmitarbeiter von Ort zu Ort und verkauft Decken, Bettlaken und Kissen. Zum Schabbat kehrt er zurück nach Köln, wo er mit seiner Familie ein traditionelles jüdisches Leben führt. Das Ehepaar bekommt drei Söhne: Joseph-Martin-Menashe (geb. 1925), George-Richard-Reuven (geb. 1927) und Adolf-Bernhardt-Adi (geb. 1931). Als Gabbai, Laienvorsteher der Synagoge, nimmt Friedrich eine besondere Rolle in seiner Heimatgemeinde ein. In seiner freien Zeit engagiert er sich im Kölner Sportverein „Maccabi“ und unterrichtet Boxen. Sein ältester Sohn Menashe teilt die Leidenschaft des Vaters für Sport und trainiert Gymnastik im Rahmen der Bewegung „Agudat Hakoach“.
Nach sechs Jahren trifft die junge Familie ein schwerer Schicksalsschlag: Im März 1931, etwa vier Monate nach der Geburt des jüngsten Sohns Adi, stirbt die 25-jährige Sara an einer Lungenentzündung. Friedrich ist nun alleine für seine drei Söhne verantwortlich. Zwei Jahre nach Saras Tod heiratet Friedrich ihre Schwester Regina-Rivka, die 1935 ihren Sohn Kurt-Katriel auf die Welt bringt. Die älteren Jungen besuchen gemeinsam jüdische Schulen in Köln.
Nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kommen, verlassen Reginas beiden Brüder Deutschland und wandern nach Eretz Israel aus. Obwohl Friedrich und Regina immer mehr das Vertrauen in den deutschen Staat verlieren, erleben die Kinder anfangs noch einen Alltag, der sie nichts Böses ahnen lässt. „Dank unseres nichtjüdischen Aussehens sind mein Bruder George und ich wie alle deutschen Kinder furchtlos durch Köln gelaufen“, erinnert sich Menashe, der jüngste Sohn Friedrichs. Doch diese Zeit endet spätestens 1938, als die Baders ihr Zuhause verlassen müssen. Sie werden zwangsumgesiedelt in eine Straße, in der ausschließlich Jüdinnen und Juden wohnen. Während der Novemberpogrome am 9./10. November 1938 nehmen die Nationalsozialisten Friedrich fest und verschleppen ihn ins Konzentrationslager. Er wehrt sich gegen seine Inhaftierung und wird schließlich freigelassen. Für seine Freilassung sprechen seine Dienste im Ersten Weltkrieg und das ihm verliehene Eiserne Kreuz. Nachdem Friedrich seine Familie wieder in die Arme schließen kann, steht fest: Deutschland kann nicht länger ihre Heimat bleiben.
Die Familie beantragt eine Einwanderungserlaubnis in die USA, doch ein ungeahntes, bürokratisches Hindernis gefährdet ihren Plan: Medizinische Tests im amerikanischen Konsulat in Stuttgart belegen, dass Kurt eine medizinische Vorgeschichte mit Ohrproblemen hat und die Familie weitere 200 Dollar an Bürgschaften von Verwandten in den USA bereitstellen soll. Diese Verzögerung kostet sie ihre Abreisemöglichkeit.
So muss die Familie in Deutschland bleiben. Der älteste Sohn Menashe erinnert sich:
„Wir gingen weiter zur Schule in stark verkleinerten Klassen. Einige Kinder waren bereits nach Zbąszyń vertrieben worden, und jeden Tag kamen weniger Kinder zur Schule. Mehr als die Hälfte der Klasse fehlte bereits.“
Im Dezember beginnt für Menashe ein neuer Lebensabschnitt, als er seine Bar Mizwa feiert. Ein Lehrer aus Luxemburg bereitet ihn auf diesen besonderen Tag vor, und Menashe darf zum ersten Mal die Gebetsriemen anlegen und aus der Tora vorlesen. Seine Eltern schenken ihrem ältesten Sohn bei dieser Feier eine Uhr.
Vater Friedrich hofft weiter auf eine neue, sichere Heimat für seine Familie. Er versucht, seine drei älteren Söhne zu Verwandten in die Vereinigten Staaten zu bringen, wo Regina und er sich eine glückliche Zukunft für die Familie ausmalen. Der siebenjährige Adi verlässt Deutschland als erster. Mit Hilfe eines Bekannten der Familie wurde er im Januar 1939 auf einem Frachtschiff über die Niederlande hinausgeschmuggelt und trifft in Antwerpen seinen Onkel Max, den Bruder Friedrichs. Max bringt Adi zu einer katholischen Familie in Kapellen, die helfen möchte und den Jungen aufnimmt.
Als nächstes wird der 11-jährige George aus Deutschland geschmuggelt und in ein nichtjüdisches Waisenhaus in Antwerpen gebracht wird. Obwohl der Krieg ausbricht, gelingt es auch dem 14-jährigen Menashe zu fliehen. Er verlässt Deutschland mit der Jugend-Aliyah und kommt im Dezember 1939 in Eretz Israel an. „Als wir uns trennten, gab Vater mir seine Tefillin (jüdische Gebetsriemen). Es war ein Jahr nach meiner Bar Mizwa“, erinnert sich Menashe. Friedrich, Regina und Kurt bleiben zurück in Köln.
Adi erzählt über seine Erinnerung an Kapellen:
„Die Dame in dem katholischen Heim, in dem ich wohnte, war sehr herzlich. Mein Onkel brachte ihr Stoff zum Nähen eines Kleides, und sie vereinbarten, dass er monatlich 120 Franken für meine Verpflegung bezahlen würde. Mein Onkel zahlte zweimal, und die ganze restliche Zeit, in der ich dort war, kam es zu keinen Nachzahlungen … Ich erinnere mich, dass ich bei meiner Ankunft vier Tage lang geweint habe. Jeden Abend, wenn ich schlafen ging, rezitierte ich ein Gebet, an das ich mich von zu Hause erinnerte.”
Adi bewegt sich in Kapellen völlig frei. Er besucht die örtliche Schule und geht in die Kirche. Die Familie, bei der er lebt, versorgt ihn mit allem Nötigen. Von Zeit zu Zeit besucht ihn sein Bruder George, bis im Mai 1940 die Deutschen in Belgien einmarschieren. Insgesamt dreieinhalb Jahre, bis zum Sommer 1942, lebt Adi in Kapellen. Doch als immer mehr belgische Jüdinnen und Juden verhaftet und in Lager deportiert werden, fürchtet die katholische Familie um Adis und ihre eigene Sicherheit. Im Juni vertrauen sie Adi der jüdischen Gemeinde in Antwerpen an. Diese bringt ihn zunächst in ein jüdisches Waisenhaus in Antwerpen, doch nach einigen Monate wird er in ein religiöses Waisenhaus nach Brüssel verlegt. Adi, der als Christ in Kapellen gelebt hatte, fällt es schwer, sich an den dortigen orthodoxen Lebensstil zu gewöhnen, und im Februar 1943 wird er in das Kinderheim des AJB (Verband der Juden in Belgien) in Wezembeek verlegt. An seine Zeit in Wezembeek erinnert er sich:
„Ich habe Französisch gelernt… Wir haben auch hebräische Lieder gelernt. Wir lernten hebräische Wörter. Jede Gruppe hatte einen hebräischen Namen… Es waren Kinder im Alter von 1 bis 17 Jahren dabei. Wir spielten viel und es gab viele Gruppenaktivitäten. Wir gingen oft in den Wald… Als ich in Wezembeek war, schrieb ich eine Postkarte an meinen Bruder George im Waisenhaus in Antwerpen und bat ihn, mich zu besuchen.”
Im Sommer 1944 steigt die Gefahr für die Wezembeek-Kinder und sie werden auf verschiedene christliche Einrichtungen verteilt. Adi gehört zu einer Gruppe, die nach Löwen kommt, einer belgischen Stadt in der Region Flandern, wo er in einem Kloster lebt – bis amerikanische Soldaten Belgien befreien.
Nach dem Krieg versuchen die Brüder Menashe und Adi gemeinsam herauszufinden, was mit ihrer Familie in den letzten Jahren passiert war: Ihr Bruder George wurde von der Gestapo in Antwerpen aufgegriffen, verhaftet und in das Lager Mechelen verschleppt. Von dort wurde er am 26. September 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Onkel Max, der Adi und George bei ihrer Ankunft in Belgien geholfen hatte, wurde ebenfalls ermordet. Die Umstände seines Todes bleiben jedoch unbekannt. Auf der Suche nach ihren Eltern und dem jüngsten Bruder stoßen sie dagegen auf mehr Informationen. Friedrich und Regina wurden am 20. Juli 1942 von Köln nach Minsk deportiert und ermordet, mit ihnen der jüngste Sohn Kurt. Er war zu diesem Zeitpunkt ungefähr fünf Jahre alt.
Adi Bader wandert im Juni 1946 nach Eretz Israel aus. Menashe schließt sich der Untergrundorganisation Haganah an, tritt in die IDF ein und kämpft in den Reihen der Givati-Brigade im israelischen Unabhängigkeitskrieg. Später heiratet er seine Freundin Ruth.
Damit die Erinnerungen an seine Eltern Friedrich und Regina und seine Brüder George und Kurt niemals verloren gehen, reicht Menashe im Jahr 2000 Gedenkblätter bei Yad Vashem ein. Im Jahr 2013 übergeben die Angehörigen im Rahmen des Projekts „Gathering the Fragments“ Dokumente und Fotografien der Familien Bader und Sibirski an Yad Vashem, wo sie seitdem für die Nachwelt bewahrt werden. Einige der Erinnnerungen an sie sind bis heute im Museum ausgestellt. Unter den persönlichen Erinnerungsstücken, die Menashe an Yad Vashem spendete, sind auch die Tefillin (Gebetsriemen) seines Vaters. Friedrich schenkte sie seinem Sohn, bevor sie sich in Deutschland voneinander verabschiedeten – beide nichtsahnend, dass dieser Abschied für immer war.