Das Schicksal von sieben jüdischen Frauen, die in I, einem der schlimmsten Außenlager des KZ Dachau, ihre Kinder zur Welt brachten, ist eine bewegende und außergewöhnliche Geschichte von Hoffnung und Solidarität: Unter schrecklichen Bedingungen, bei mangelhaften hygienischen Verhältnissen und eisiger Kälte im Lager wurden im Winter 1945 sieben Kinder geboren. Ihre Mütter waren in Auschwitz dem Tod entgangen: schwangere Frauen und Mütter von Kleinkindern wurden in der Regel gleich bei ihrer Ankunft in den Lagern als „arbeitsunfähig" eingestuft und in den Gaskammern ermordet. Oft versuchten Frauen, ihre Schwangerschaft geheimzuhalten oder wurden zu Abtreibungen gezwungen. Im Folgenden erzählen Miriam Rosenthal, eine der Kauferinger Mütter, und Hanna Klein, eines der „Babys" von 1945, ihre Geschichte.
Kaufering
Als die deutsche Flugzeugproduktion durch alliierte Luftangriffe zunehmend gefährdet war, beschlossen die Nationalsozialisten, die Herstellung wichtiger Waffen, Flugzeuge und Raketen in unterirdische Fabriken zu verlegen. Zwischen Juni und Oktober 1944 wurde in der Nähe des Dorfes Kaufering als Außenstelle des KZ Dachau ein Komplex von 11 Lagern errichtet. Jüdische Häftlinge vorwiegend aus Litauen, Ungarn und Polen wurden meistens aus Auschwitz hierher transportiert, um unter mörderischen Bedingungen Zwangsarbeit zu leisten.
„Als ich in die Baracke in Kaufering trat und dort sechs andere Frauen sah, alle schwangere Ungarinnen, wäre ich vor Glück fast ohnmächtig geworden. Ich habe geweint und wir alle haben uns umarmt.", erinnert sich Miriam.
Die junge Frau stammte aus einer wohlhabenden, jüdisch-orthodoxen Familie und war eines von 14 Kindern. In der Familie sprach man Ungarisch und Deutsch. Als 1938 die Südslowakei, ein mehrheitlich von Ungarn bewohntes Gebiet, von Ungarn annektiert wurde, verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der Familie.
Kurz vor ihrer Deportation nach Auschwitz im Juni 1944 heiratet Miriam als 22-Jährige ihren Verlobten Béla. Das junge Glück währt nur wenige Wochen, das Paar wird getrennt. In Auschwitz gelingt es Miriam wochenlang, ihre Schwangerschaft vor der SS zu verbergen. Es sei der Geist ihrer Eltern gewesen, der sie beschützt habe, erzählt sie Jahrzehnte später, anders könne sie es sich nicht erklären. Nach Monaten in Auschwitz, Plaszow und Augsburg kommt die junge Frau schließlich in das Dachauer Außenlager Kaufering I.
Etwa zur gleichen Zeit wie Miriam steht Dora Loewy mit ihren Geschwistern vor dem an der Rampe zur Selektion in Auschwitz-Birkenau. Im vierten Monat schwanger, kann sie ihren Bauch kaum noch verbergen. Mengele schickt sie nach links, zu den Gaskammern. „Dann fingen ihre Geschwister an zu weinen und zu betteln, sie sagten, ihr Bauch sei wegen des Hungers aufgebläht, sie sei nicht schwanger. Mengele gab dem Flehen nach, und sie durfte nach rechts gehen, zur Arbeit", schildert Doras Tochter Hanna Klein.
Lagerarzt Mengele
Lagerarzt Mengele Arzt und SS-Offizier, der als „Todesengel von Auschwitz" Bekanntheit erlangte. Ab Juni 1940 diente Mengele in der Sanitätsabteilung der Waffen-SS. Im Mai 1943 begann er seinen Dienst im Vernichtungslager Auschwitz und blieb dort bis zu dessen Evakuierung. Mengele beschäftigte sich mit angeblich „wissenschaftlichen“ Experimenten und führte Selektionen unter den Juden durch, die ins Lager gebracht wurden. Nach Kriegsende verloren sich seine Spuren.
Aus Mangel an Arbeitskräften für die deutsche Rüstungsindustrie kommen Miriam und Dora im Herbst 1944 aus Auschwitz zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Noch kennen sich die beiden Frauen nicht. Sie sind nicht die einzigen Schwangeren in Kaufering I: im Laufe des Winters 1945 bringen dort fünf weitere Frauen Kinder zur Welt. Alle Mütter und Kinder überleben. Miriam gebärt als letzte der Frauen einen Sohn, Laci (Leslie). Auch Dora Loewys Tochter Hanna ist eines dieser Kinder.
Es vergehen über 60 Jahre, bis Hanna den Mut aufbringt, Fragen zur Vergangenheit zu stellen. „Als ich ein Kind war, erzählte mir meine Mutter, dass sie mich in einem KZ zur Welt gebracht habe. Aber natürlich wusste ich damals nicht, was das bedeutet. Später hat sie nie wieder darüber gesprochen.“ Hannas Geschichte ist eine Ansammlung von Puzzlestücken und lückenhaften Kindheitserinnerungen. Niemals sprach ihre Mutter Dora mit ihr von der Zeit in Auschwitz und Kaufering, immer sagte sie nur: „Ich habe dich aus der Hölle zurückgebracht." Die Hölle, das war Kaufering.
„Die SS hat uns sein lassen, uns weder geholfen noch umgebracht. Das war sehr merkwürdig", erzählt Miriam. Dabei war das weitere Schicksal der Mütter schon entschieden: Der Lagerarzt im KZ Dachau hatte im März 1945 einen Überstellungsbefehl unterschrieben, gemäß dem die Schwangeren in Kaufering zusammengefasst und nach ihrer Entbindung nach Bergen-Belsen transportiert werden sollten – ein sicheres Todesurteil. Im Chaos der letzten Kriegswochen kam man nicht mehr dazu, den Befehl auszuführen (S.154). Vermutet wird auch, dass die SS die Babys als Alibi für die näher kommenden Allierten am Leben ließ.
Die Möglichkeit des Überlebens ist einer Reihe von glücklichen Zufällen und vor allen Dingen der Solidarität der Häftlingsgemeinschaft in Kaufering zu verdanken. In Auschwitz bleibt die Schwangerschaft aller sieben Frauen unentdeckt. In Kaufering müssen sie bis zur Geburt in der Wäscherei arbeiten.
„Im Lager lebte auch David, ein polnisch-jüdischer Kapo, der in der Küche arbeitete. Er hatte gute Beziehungen zu der SS. Eines Abends schlich er sich in der Dunkelheit zu uns herein, er sprach Jiddisch. Er sagte: ,Ich habe auch Kinder, und ich weiß nicht, wo sie sind. Wahrscheinlich sind sie tot. Dieser Krieg hat alle jüdischen Kinder umgebracht. Eure sieben Babys müssen wir retten. Ich will euch helfen. Ich werde euch jeden Abend Essen bringen. Fleisch, Brot, Käse, für jeden ein bisschen.' Wenn es auf der Welt so etwas wie Engel gibt, dann war David einer," erinnert sich Miriam.
Es sind Dinge wie ein kleiner Holzofen, Wickeltücher für die Babys und die Hilfe des geschwächten ungarischen Gynäkologen Ernö Vadász, die zum Überleben beitragen. Infolge der Unterernährung im Lager haben von den sieben Frauen nur zwei Milch zum Stillen. Sie versorgen die anderen Babys mit ihrer Milch.
Am 29. April 1945, dem Tag der Befreiung durch amerikanische Soldaten, wird Miriam mit dem Zug nach Dachau geschickt. Sie kommt an, ohne zu wissen, wo sie ist. Das einzige, was für sie zählt, ist Nahrung für sich und ihr Baby zu finden. Sie springt vom Eisenbahnwaggon und klopft bei Fremden an die Tür. Eine deutsche Frau öffnet und fragt, was sie denn brauche.
„In diesem Haus hing ein riesiger Spiegel. Es war das erste Mal seit der Deportation nach Auschwitz, dass ich in den Spiegel blickte. Ich erschrak. Ich sah aus wie ein Skelett, eingefallen und ohne Haare. Die Frau wollte mich nur loswerden, deshalb gab sie mir ein Brot, und ich rannte zurück zum Waggon, wo sich alle auf das Brot stürzten."
Wenige Stunden später wird Miriam befreit. In den folgenden Monaten finden die Mütter mit ihren Kindern im Zuflucht und können sich erholen. Später macht sich Miriam auf den Rückweg in ihre Heimatstadt Komárno. Hier erfährt sie, dass fast ihre gesamte Großfamilie ermordet wurde - ihr Mann Béla jedoch hat überlebt. Zum Zeitpunkt der Trennung wusste das Paar noch nichts von ihrer Schwangerschaft. Als Béla nach Komárno kommt, traut er seinen Augen nicht. Trotz ihres Glückes, wieder vereint zu sein, wird Miriam jahrelang von Alpträumen und Schuldgefühlen geplagt. „Warum habe ausgerechnet ich überlebt? Warum nicht meine Mutter, die ein so wundervoller Mensch war? Es ist nicht wahr, dass Zeit alle Wunden heilt!"
Kloster St. Ottilien
Kloster St. Ottilien Das Kloster der Missionsbenediktiner diente zwischen 1945 und 1948 als Zwischenstation für über 5.000 jüdische Überlebende aus Osteuropa. Aus dem dort befindlichen Wehrmachtlazarett wurde ein jüdisches DP-Krankenhaus. Ab 1946 gab es eine Entbindungsstation, auf der über 400 jüdische Kinder zur Welt kamen.
Hanna wird ihren leiblichen Vater nie kennenlernen, er überlebt den Holocaust nicht. Im Jahr 1948 reist sie als Dreijährige mit ihrer Mutter Dora aus einem italienischen in das Britische Mandatsgebiet Palästina ein, das kurz darauf zum Staat Israel ausgerufen wird. Heute versucht sie, die fehlenden Puzzlestücke ihrer Familiengeschichte zusammenzubringen. „Wir haben alle sieben an einem Wunder teilgehabt. Aber wenn meine Mutter heute noch leben würde, würde ich sie so viel fragen."
DP-Lager
Displaced-Persons-Lager (DP-Lager) Vorübergehende Auffanglager, in denen nach der Befreiung 1945 sogenannte Displaced Persons (DPs) untergebracht wurden. Bei Kriegsende befanden sich in Europa rund 250.000 überlebende Juden, die in solchen Lagern einquartiert wurden. Von ihnen wanderten etwa 136.000 nach Israel und etwa 80.000 in die USA aus. Rund 12.000 blieben in Deutschland.
Vor einigen Jahren machte es sich die in Dachau lebende Journalistin Eva Gruberová zur Aufgabe, die Geschichte des Fotos der sieben unbekannten Frauen mit den Babys im Arm zu erforschen. Nur zwei der Kauferinger Mütter waren noch am Leben: Miriam Rosenthal und Eva Fleischmanová, beide aus der Tschecholowakei gebürtig. Es entstand ein bewegender (Dokumentarfilm) und das Buch „Geboren im KZ. Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I". Zur 65. Befreiungsfeier des KZ Dachau im Jahr 2010 brachte Gruberová fünf der sieben „Kinder" zum ersten Mal seit ihrer Geburt wieder zusammen. Miriam Rosenthal starb im Februar 2018 im Alter von 95 Jahren in Toronto. Hanna lebt in Israel und ist pensioniert. Auch heute, nach dem Tod aller sieben Mütter, wirken der Überlebenswille und der Mut der Frauen in ihren Erzählungen weiter.
*Video-Interview der USC Shoah Foundation – The Institute for Visual History and Education mit Zeitzeugin Miriam Rosenthal