1939 verblieben 282 Juden in Ratibor. 1940 wurden jüdische Männer aus Ratibor zur Zwangsarbeit verschleppt. Um diesem Schicksal zu entgehen, suchte Walter eine Anstellung in seinem Beruf als Ingenieur. Er fand Arbeit in einer Fabrik, die für die deutsche Kriegsindustrie arbeitete, und zog nach Berlin. Herta und die Kinder blieben anfangs in Ratibor. Walter wandte sich an die Behörden und bat um Erlaubnis für Hertha und die Kinder, nach Berlin zu ziehen, und im Juni 1942 gab die Gestapo seinem Antrag statt. Es geschah in letzter Minute: Im Juli begann die Deportation von Juden aus Ratibor. Arje, der damals 15 Jahre alt war, erzählte:
Wir kamen nach Berlin. Mitten in den Kriegstrubel hinein. Im ersten viertel Jahr hatten wir keine Wohnung, man gab keine mehr für Juden. Wir wohnten in sehr schlechten Verhältnissen in einem winzig kleinen Schrankzimmer, das uns Glaubensgenossen abgaben. Man konnte natürlich nicht ruhig schlafen. Erstens einmal die Angst vor der Gestapo, die ja jeden Tag oder jede Nacht kommen konnte, um uns abzuholen. Zweitens, da wir nur zwei Betten hatten und wir vier Personen waren. Ich ging damals mit dem gelben Judenstern (…). Berliner Verkehrsmittel konnte man nicht benutzen. (…) Lebensmittel gab es sehr wenig. Die Verpflegung war also äusserst schlecht.
Walter konnte Herta eine Arbeit in der Fabrik vermitteln, in der er arbeitete. Nach etwa drei Monaten gelang es ihm, zwei Zimmer von einer jüdischen Witwe zu mieten und die Lebensbedingungen der Familie verbesserten sich. Sie lebten im Schatten der häufigen Deportationen von Juden aus Berlin in den Osten. Nachdem eine jüdische Familie von der Gestapo aus dem Gebäude, in dem sie wohnte, geholt wurde, beschloss Walter, dass sie untertauchen und sich verstecken mussten. Wenn jemand an ihrer Tür klingelte, antworteten sie nicht und jedes Geräusch von Schritten auf der Treppe erschreckte sie. Im Januar 1943 fand Walter ein deutsches Ehepaar, das sich bereit erklärte, seine beiden Kinder gegen eine Gebühr zu verstecken, und Arje und Ilse zogen bei dem Paar ein. Im Februar kamen die Eltern aufgeregt, ohne Mantel oder Hut, in Arbeitskittel gekleidet, in das Versteck ihrer Kinder und berichteten, dass in der Fabrik, in der sie arbeiteten, eine Razzia durchgeführt worden sei und alle Juden, die noch dort arbeiteten, festgenommen worden seien. Walter und Herta konnten zwar entwischen, wurden aber weiter gesucht. Sie blieben mehrere Tage bei ihren Kindern und versteckten sich dann an getrennten Orten. Walter wohnte in einem kleinen, feuchten Keller, für den er dem Besitzer ein Vermögen bezahlte und der ihn erpresste und ständig beschimpfte. Die meiste Zeit erlaubte der Besitzer Walter nicht, den Keller überhaupt zu betreten, und Walter wurde zu Nächten und langen Tagen auf der Straße verurteilt. Walter und Arje gelang es, in die von der Gestapo abgeriegelte Wohnung zu gelangen, in der sie früher gewohnt hatten. „Wir haben das Siegel aufgerissen, die Tür geöffnet und innerhalb einer Minute alles mitgenommen, was wir tragen konnten", sagte Arje, „also sind wir in unsere Wohnung eingebrochen und haben uns wie Kriminelle gefühlt."
Nachdem Walter etwa zwei Monate nicht mehr gearbeitet hatte, beschloss er, so nicht mehr überleben zu können. Er fand einen Job in einer Fabrik, deren Besitzer er kannte. Dieser stellte ihn ohne Papiere oder Anmeldung beim Arbeitsamt an und behandelte ihn fair. Im Angesicht der Bombardierung Berlins wurde die Fabrik, in der Walter arbeitete, zusammen mit anderen Fabriken nach Schlesien verlegt. Der Fabrikbesitzer bot Walter an, mit der Fabrik mitzukommen, doch Walter lehnte ab, weil er Frau und Kinder nicht verlassen wollte. Inzwischen hatte Walter für Arje einen Platz außerhalb Berlins im Dorf Fichtenwalde gefunden, wo er auf einem Bauernhof und im Haus der Familie arbeitete. Für seine Tochter Ilse fand Walter eine Anstellung bei einer deutschen Familie als Aushilfe, bei der sie auch übernachtete. Herta versteckte sich woanders. Nach einer Razzia der Gestapo am Aufenthaltsort Arjes in Fichtenwald, flüchtet Arje und kehrte nach Berlin zurück.
Walter fand eine neue Arbeit. Im April 1943, nur drei Tage nach Aufnahme seiner Tätigkeit am neuen Standort, wurde er an die Gestapo ausgeliefert und am 17. Mai nach Auschwitz deportiert. Herta, Arje und Ilse fanden sich allein in Berlin wieder, ohne Walter, der sich bisher um alle ihre Bedürfnisse gekümmert hatte. Herta gab auf und teilte ihren Kindern mit, dass es für sie besser sei, sich der Gestapo zu stellen. „Sie werden uns sowieso erwischen“, sagte sie, „und so werden wir uns wieder mit Papa vereinen.“ Arje hielt sie davon ab und sagte: „Egal wie schlimm es mir geht, ich werde mich nie der Gestapo ergeben." Nach der Verhaftung des Vaters suchte der 16-jährige Arje ständig nach Verstecken für sich, seine Mutter und Schwester. Keiner von ihnen hatte einen Personalausweis. Manchmal blieben sie zusammen, manchmal trennten sie sich und zogen ständig von Ort zu Ort, um den Razzien der Gestapo und den Kontrollen der Polizei auf den Straßen zu entgehen. Sie verbrachten viele Stunden draußen und sahen sich manchmal wochenlang nicht. Als ihnen das Geld ausging, übernahmen sie Gelegenheitsjobs nur für kurze Zeit, aus Angst, als Juden identifiziert zu werden. Arje erzählte wie er in einem Zimmer in einer von Deutschen umgebenen Wohnung lebte:
Das Haus in welchem ich wohnte, hatte ausser zwei Familien nur Nazis zu Anwohnern!(…) Der Gruß war ‘Heil Hitler’. Zum Frühstück ‘Heil Hitler’, zum Mittag ‘Heil Hitler’, zum Abend ‘Heil Hitler’ und nachts im Luftschutzkeller ebenfalls ‘Heil Hitler’. (…) In meiner Wohnung wohnte jetzt ein Ehepaar mit Tochter. Einen überzeugteren Nationalsozialisten als diesen Mann hatte ich noch nicht gesehen. Fast jeden Abend musste ich mit ihm zusammensitzen und politisieren. Und ein Judenhasser war dieser Kerl! Ich musste mit ihm zusammen auf die Juden schimpfen, was das Zeug hielt! Wenn er gewusst hätte wer ich war! Er hätte mich mit seinen eigenen Pranken zerfleischt!
Während der Bombardierung Berlins durch die Alliierten im November 1943 verloren Herta, Arje und Ilse ihren gesamten Besitz, der unter verschiedenen Bekannten verstreut war. Die Wohnungen ihrer Bekannten fingen Feuer und ihnen blieb nichts mehr. Jeden Tag kämpften sie darum, eine Unterkunft und Essen zu finden und arbeiteten weiterhin in jedem Gelegenheitsjob. Die drei überlebten auch die Tage der Kämpfe in Berlin und fanden sich nach der Befreiung Berlins durch die Rote Armee wieder. Arje sprach über die ersten Tage nach der Befreiung:
Nach ein paar Tagen füllten alle Listen aus und es gab sogenannte „Lebensmittelkarten”. Ich trug mich jetzt natürlich auch ein, unter meinem richtigen Namen. Die Hausbewohner staunten, früher hieß ich doch anders! Nach ca. 6 Wochen gelang es mir in meiner Gegend eine schöne 1,5 Zimmer Wohnung im Neubau ausfindig zu machen, die Nazis gehört hatte, die vor den Kämpfen geflüchtet waren.
Arje beschloss, Deutschland zu verlassen. Er trennte sich von seiner Mutter und Schwester, verließ im Oktober 1945 Berlin und kam in das DP-Lager Bergen-Belsen. Von dort zog er im Januar 1946 ins Blankenese-Kinderheim in Hamburg. Im April 1946 wanderte er mit einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen und ihren Betreuern über Marseille nach Eretz Israel (Britisches Mandatspalästina) aus und ließ sich im Kibbuz Dorot nieder. Arje trat in die Palmach und später in die IDF ein und wurde im Unabhängigkeitskrieg schwer verwundet. Arje schrieb in seinen Memoiren über seine Verletzung:
Ich hatte das „Privileg” verwundet worden zu sein und galt sogar eine Zeit lang als Kriegsverletzter. Aber ich wurde auf wundersame Weise gerettet und in letzter Minute mit einer damals seltenen Luftevakuierung ins Krankenhaus gebracht. Ich habe all dies mit Liebe akzeptiert, denn es diente dem Schutz unserer Heimat, des jüdischen Staates, des Staates Israel, unserer nationalen Heimat, in der sich unser Volk für immer niederlassen wird, und niemand wird uns an den Ort zurückbringen, an dem wir uns in der Geschichte befanden, die Sie gerade lesen. (Kirjat Bialik, Israel, 2005).
Herta und Ilse-Ilana wanderten 1948 nach Israel aus.
1955 reichte Arje Meir in Yad Vashem ein Gedenkblatt zum Andenken an seinen Vater Walter ein. 2015 wurden Arjes Fotos und Familiendokumente, die zum Teil hier erscheinen, im Rahmen des nationalen Projekts „Gathering the Fragments“, in deutscher und hebräischer Sprache an das Yad Vashem-Archiv übergeben.
Diese Ausstellung wird großzügig unterstützt von Konrad Adenauer Stiftung