Kalender für das jüdische Jahr 5704 (1943/44) aus dem Ghetto Theresienstadt
In den ersten Jahren des Bestehens von Yad Vashem wurde die Kopie eines jüdischen Kalenders für 5704 (1943/44) aus Theresienstadt in die Sammlung aufgenommen. Der Kalender im Taschenformat wurde per Blaupause vervielfältigt. In deutscher und hebräischer Sprache abgefasst, enthält er die Zeiten für den Beginn von Sabbat und Feiertagen sowie die für das ganze Jahr berechneten Zeiten von Auf- und Untergang der Sonne. Die Erstellung eines Gegenstands dieser Art ist ein kompliziertes Unterfangen, das umfangreiches Wissen erfordert. Es ist daher anzunehmen, dass eine Reihe von Personen daran beteiligt waren.
Das Deckblatt des Kalenders schmücken Sternzeichen, die jeweils mit dem hebräischen Monatsnamen versehen sind. Die letzte Seite zeigt das Innere einer Synagoge. Daneben, auf der hinteren Innenseite des Einbands, befindet sich die Unterschrift des Besitzers des Kalenders in hebräischen Lettern: „Avraham Hellmann in Theresienstadt“. Der Kalender enthält eine Reihe von Abbildungen, darunter die eines Mannes (vielleicht eines Kantors), der am Vorlesepult einer Synagoge betet, deren Wände und Decke dekoriert sind. Unten rechts befindet sich die Unterschrift des Künstlers: „Berlinger“.
Arthur (Ascher) Berlinger ist uns aus Zeichnungen bekannt, die er in Theresienstadt anfertigte. Eine von ihnen wird in der Yad Vashem-Kunstsammlung aufbewahrt.
Vor dem Krieg war Arthur Berlinger in der jüdischen Gemeinde Schweinfurt sowohl als Kantor als auch als Kunst- und Musiklehrer tätig. Daneben fertigte er jüdische Kultgegenstände an. Berlinger und seine Frau Bertha überlebten den Holocaust nicht, doch ihre Töchter Senta und Rosalie, die sie vor Ausbruch des Krieges mit dem Kindertransport nach England geschickt hatten, überstanden dort den Krieg.
Aus einem Vergleich von Berlingers Zeichnungen mit Fotografien aus dem Inneren einer Synagoge, die in den letzten Jahren auf dem Gelände von Theresienstadt in einem Privathaushalt entdeckt wurde, geht hervor, dass diese Synagoge Berlingers Vorlage war.
Dies zeigt sich nicht nur an der mit Sternen bemalten Decke, sondern insbesondere an den brennenden Kerzen am Deckengewölbe, die auf der Zeichnung des am Vorlesepult betenden Kantors zu sehen sind (siehe begleitende Abbildungen). An den Wänden der ehemaligen Synagoge sind noch Reste hebräischer Schriftzüge zu sehen. Es ist durchaus möglich, dass auch sie von Berlinger an die Wände gemalt wurden. Die ausgewählten Verse sagen viel über die unter den Betern vorherrschende Stimmung aus. Die Wände der „Verborgenen Synagoge“ in Theresienstadt sind einzigartig, da sie neben Versen, die häufig zur Dekoration von Synagogen verwendet wurden, auch mit Abschnitten aus dem Tachanun beschriftet sind, einem uralten Teil der Morgengebetsliturgie, der angesichts des Schicksals der Juden während des Holocaust bestürzend angemessen ist:
„Ewiger, Gott Israels, lass ab von Deinem Zorn und verwirf Dein Vorhaben, Dein Volk zu strafen. Schau herab vom Himmel und sieh, dass wir den Völkern zu Spott und Hohn geworden sind; wir gelten als Schafe, die man zur Schlachtbank führt, zur Tötung, zur Vernichtung, zur Misshandlung und zur Schande. Und doch haben wir Deinen Namen nicht vergessen - wir bitten Dich, verlasse uns nicht.“
Am 28. September 1944 wurde Arthur Berlinger von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert, wo er ermordet wurde. Seine Frau Bertha, geb. Braunold, wurde eine Woche später, am 6. Oktober 1944, nach Auschwitz deportiert. Auch sie wurde dort ermordet.
Heute wissen wir, dass Theresienstadt nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur Vernichtung war. Der Kalender vermittelt uns einen Eindruck vom unerschütterlichen Glauben der nach Theresienstadt Deportierten, die versuchten, die Strukturen eines religiösen Lebens aufrecht zu erhalten – mit selbstgefertigten Kalendern, die es ihnen ermöglichten, zur festgesetzten Zeit die Feiertage einzuhalten, und indem sie Räume zum Gebet bereitstellten und durch Zeichnungen ihre innersten Gefühle zum Ausdruck brachten.
Yad Vashem Objektsammlung
Geschenk von Charlotte Hellmann-Lederer, Tel Aviv