Ein Interview mit Dr. Noa Mkayton, Direktorin des Overseas Education and Training Departments
Dr. Mkayton, Ihre Abteilung an der Internationalen Schule für Holocaust-Studien befasst sich unter anderem mit der Entwicklung neuer Lehrmaterialien und der Fortbildung von Pädagogen. Was sind Ihrer Meinung nach heute die größten Herausforderungen in der Holocaust-Pädagogik im deutschsprachigen Raum?
Die Zusammensetzung der Schüler im Klassenraum hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Die Gesellschaft der Lernenden wird immer heterogener, viele Schüler haben einen Migrationshintergrund und oftmals gar keine Verbindung zu deutscher oder europäischer Geschichte. Wenn wir beispielsweise Geflüchtete betrachten, haben diese Schüler einen ganz anderen persönlichen Hintergrund und sind mit einem ganz anderen Narrativ großgeworden. Sie sind meist sehr weit weg von den Kernthemen der Holocaustbildung. Die Herausforderung der Lehrer besteht darin, auch diese Schüler anzusprechen. Einerseits muss die Geschichte authentisch vermittelt werden, andererseits aber auch für alle Lernenden relevant sein. Als Lehrer stehe ich also vor der Frage, wie kann ich die Geschichte unterrichten, so dass ich ihr und der Perspektive der Opfer gerecht werde und dabei gleichzeitig den Schülern Anknüpfungspunkte bieten kann, damit sie verstehen, dass diese Geschichte auch für sie Relevanz besitzt. Die Lernenden sollen begreifen, dass der Lernstoff auch etwas mit ihrer Welt von heute zu tun hat.
Hat sich dementsprechend in den letzten Jahren das Unterrichtsmaterial geändert? Wurde es an einen multikulturellen Hintergrund der Lernenden angepasst?
Ja, wir versuchen immer wieder aktuelle und neue Ansätze zu finden, mit dem Anspruch, der Perspektive der Opfer verbunden zu bleiben. Dies bezieht sich nicht nur auf den Unterricht in Deutschland - wir arbeiten mit Partnerinstitutionen auf 6 Kontinenten zusammen. Dabei müssen wir herausfinden, wie man die Geschichte des Holocaust unterrichten kann, ohne dabei die spezifische Landesgeschichte aus dem Auge zu verlieren. Ziel ist es, zu einer Pädagogik der Anerkennung zu kommen, bei der die Geschichte des Holocaust unterrichtet wird und gleichzeitig die Erfahrungen des anderen berücksichtigt werden. Natürlich können wir in Indien oder Afrika den Holocaust nicht so unterrichten wie in Deutschland oder Polen beispielsweise. Die Shoah ist eingebettet in einen globalen Kontext, dementsprechend müssen wir uns überlegen welche Ereignisse wir herausgreifen können, um den Lernenden - beispielsweise in Indien - zu vermitteln, dass es auch für sie relevant ist.
Inwiefern spielt der heutige Antisemitismus bei der Entwicklung neuer Lehrmaterialien eine Rolle?
Der Antisemitismus ist quantitativ angestiegen, während gleichzeitig Hemmschwellen gesunken sind. Es werden mehr antisemitische Aussagen gemacht, die nicht nur mit dem politischen und gesellschaftlichen Klima zu tun haben, sondern auch auf die Präsenz sozialer Medien zurückzuführen sind. Antisemitismus verbreitet sich durch die sozialen Medien heute anders als vor ein bis zwei Jahrzehnten, dementsprechend muss man ganz spezielles Lernmaterial anbieten, das genau dieses Phänomen behandelt. Lehrer verspüren heute eine große Unsicherheit, das Thema Antisemitismus in seiner derzeitigen Form anzusprechen. Sie brauchen ein pädagogisch-didaktisches Instrumentarium, um erst einmal diese neue Art des Antisemitismus als solchen zu erkennen und pädagogisch sinnvoll damit umzugehen, sei es in der Präventions- oder Interventionsarbeit. Lehrer sind verunsichert, da sie sich nicht richtig und gut ausgebildet fühlen, um diesen Diskurs anzupacken. Wir haben zu diesem Thema jetzt Lehrmaterial entwickelt, das in Kürze herauskommen wird. Antisemitismus muss Lerngegenstand werden, denn dies war er bisher nicht. Dabei darf er nicht nur im Rahmen des Unterrichts über die NS-Zeit und die antisemitische Ideologie der Nazis behandelt werden, denn dabei wird er gegebenfalls historisiert, sondern er muss auch in seiner heutigen Form thematisiert werden.
Inwiefern stellt das langsame Verschwinden der Generation von Holocaustüberlebenden eine Herausforderung dar und wie gehen Sie damit um?
Mit dieser Fragestellung befassen wir uns schon seit einigen Jahren. Es gibt sehr viele unterschiedlich Ansätze zu diesem Thema, wie beispielsweise der Versuch die Zeitzeugen in Hologrammform auf digitalen Plattformen „lebendig" zu halten. In Yad Vashem versuchen wir, unser Lehrmaterial auf den digitalen Formen, die wir gesammelt haben, aufzubauen, beispielsweise Interviews mit Überlebenden. Meiner Meinung nach sollte dies pädagogisch die Zukunft sein: Lehrmaterialien zu entwickeln, die möglichst unmanipuliert die digitalisierten Gespräche mit den Überlebenden als Hauptquelle verwenden, in ihren jeweiligen historischen Kontext einbetten und dann durch Analyse und Diskussion die Schüler dazu einladen, sich mit diesen Lebensgeschichten auseinanderzusetzen.
Ein sehr interessantes und neues Phänomen ist, dass sich auch viele Überlebende selbst mit dieser Frage befassen und dabei oft die 3. Generation, also die Enkelkinder, involvieren: Es gibt in letzter Zeit zum Beispiel das Phänomen, dass Überlebende zusammen mit ihren Enkelkindern TikTok-Filme aufnehmen. Dies zeigt sehr gut das Bedürfnis der Überlebenden, aktiv zu sein, ihre Geschichten weiter zu geben und ihre Stimme zu hinterlassen. Und zwar genau die Stimme, die sie eben zurücklassen wollen - völlig unmanipuliert und ungefärbt von anderen Perspektiven. Sie finden damit auch gleichzeitig einen ganz anderen Zugang und eine andere Sprache, die die junge Generation anspricht. Menschen der 3. oder 4. Generation sind oft nicht daran interessiert, sich einen stundenlangen Zeitzeugenbericht anzuhören, aber einen TikTok-Film sehen sie sich an. Wir als Pädagogen haben bestenfalls damit begonnen, uns damit auseinanderzusetzen, was das für uns bedeutet und inweit dies Einfluss haben wird auf die zukünftige Vermittlung des Holocaust.