Als das Historische Museum zur Geschichte des Holocaust in den frühen 2000er Jahren geplant wurde, beschlossen die Kuratoren, einen Raum dem deutschen Judentum vor dem Krieg zu widmen. Dabei sollte ein typisches Wohnzimmer im Haus einer jüdisch-deutschen Familie nachgebildet werden. „Yad Vashem verwendet Artefakte, die im gesamten Museumskomplex ausgestellt sind, um individuelle Geschichten von Juden aus Europa zu erzählen – ganz normale Menschen wie Sie oder ich – deren Leben durch den Holocaust zerstört und für immer verändert wurden“, erklärt Michael Tal, Direktor der Objektsammlung in Yad Vashems Museumsabteilung. „Wir haben nach verschiedenen Möbelstücken gesucht, die man in einem Wohnzimmer aus dieser Zeit finden würde. Wir haben viele Gegenstände gefunden, die Yad Vashem von Überlebenden gespendet wurden. Wir konnten jedoch kein Klavier finden, das den Holocaust überlebt hat. Als Dubi Margulies mit uns Kontakt aufnahm war sofort klar, dass wir dieses Objekt in dem Raum ausstellen würden. Der wahre Schatz war jedoch die Geschichte hinter dem Klavier: die Geschichte der Familie Margulies und ihrer beispiellosen Flucht aus Nazi-Deutschland."
Die Geschichte der Familie Margulies beginnt wie die vieler anderer Juden, die vor dem Krieg in Deutschland lebten. Menashe Margulies und Bracha-Leah Markel emigrierten von Polen nach Chemnitz wo sie sich kennenlernten und heirateten. Das Paar hatte zwei Söhne: Abraham, geboren 1920, und Shlomo, geboren drei Jahre später. In Deutschland betrieb die Familie ein Textilhandelsgeschäft, von dem ein Großteil in Holland ansässig war. Als solcher erhielt Menashe ein Dauervisum, das ihm erlaubte, nach Belieben nach Holland ein- und auszureisen.
Abraham und Shlomo besuchten vormittags deutsche Grundschulen und nachmittags eine örtliche Talmud Torah Schule (jüdische religiöse Tagesschule). Von der nationalsozialistischen Machtübernahme zunächst unbeeindruckt, verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der Familie mit der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze und der Ausweitung der Judenerlasse. Menashe und Bracha-Leah beschlossen, ihre Söhne außerhalb von Chemnitz zur Schule zu schicken. Abraham schrieb sich an einem Gymnasium in Hamburg ein, während Shlomo zum Studium nach Leipzig geschickt wurde.
Im Oktober 1938 wurden alle „nichtdeutschen“ Juden aus Deutschland ausgewiesen. Menashe und Bracha-Leah konnten sich der Deportation entziehen und versteckten sich im Haus eines Bekannten. Abraham wurde gefasst und nach Krakau deportiert. Aus Angst um die Sicherheit seiner Familie kehrte Shlomo von Leipzig nach Chemnitz zurück, wo er seine Eltern im Versteck fand.
Der Familie war schnell klar, dass sie Deutschland verlassen musste. Sie beschlossen, zu versuchen, Einwanderungsvisa für Eretz Israel (britisches Mandatspalästina) zu erhalten. Menashe reiste nach Holland, wo er Visa für die Familie erhielt, die vorschrieben, dass sie bis spätestens 31. März 1939 nach Palästina einreisen mussten. Bracha-Leah begann sofort, ihre Habseligkeiten in einen Schiffscontainer zu verladen. Shlomo, damals fast 16 Jahre alt, wurde nach Berlin geschickt, um für die Familie Schiffskarten nach Eretz Israel zu kaufen. Er nahm 5.000 Reichsmark mit, die seine Mutter in seine Kleidung einnähte. Als er jedoch im Reisebüro ankam, wurde ihm gesagt, dass auf keinem Schiff nach Palästina Platz sei. Ein Freund riet ihm, bei Lufthansa Airlines Flugtickets zu kaufen. Shlomo zahlte 2.544 RM für Hin- und Rückflug, der Kauf eines Oneway-Tickets war nicht möglich. „Wer ist 1939 schon geflogen? Und ausgerechnet nach Palästina! Es war nur Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Erstaunlicherweise habe ich bezahlt und eine Quittung bekommen."
Shlomo beschrieb die Reaktion seiner Mutter, als er mit den vier Flugtickets nach Hause kam: „Zuerst weigerte sie sich, aber dann erkannte sie, dass die Sicherheit ihrer Familie davon abhing."
Bracha-Leah ging zur Polizei, um eine Genehmigung für Abraham zu erhalten und nach Deutschland zurückzukehren, um mit der Familie nach Palästina zu fliegen. Ihre Bitte wurde erhört und Abraham die Erlaubnis erteilt, nach Berlin zu reisen. Am 21. März 1939 wurden Menashe, Bracha-Leah, Abraham und Shlomo Margulies wieder vereint und die vier verließen Deutschland. Nach drei Tagen mit Stationen in München, Rom, Brindisi, Athen und Rhodos landete die Familie schließlich in Haifa. Der Schiffscontainer mit ihren Habseligkeiten, einschließlich ihres geliebten Klaviers, traf kurz darauf ein. Dies ist der einzige Fall, von dem Yad Vashem Kenntnis hat, in dem Juden aus Europa fliehen konnten und per Flugzeug nach Palästina reisten. Jahre später erstattete Lufthansa Airlines der Familie einen Teil der Kosten für den nicht genutzten Rückflug von Haifa nach Deutschland.
Einmal in Eretz Israel begann die Familie Margulies, ihr Leben wieder aufzubauen. Viele Mitglieder ihrer Großfamilie, die in Europa blieben, wurden jedoch während des Holocaust ermordet. Zum Gedenken an diese verlorenen Familienmitglieder füllten Shlomo und sein verstorbener Bruder Abraham Gedenkblätter aus – symbolische Grabsteine aller uns bekannten Männer, Frauen oder Kinder, die während des Holocaust ermordet wurden.
Im Sommer 2017 reisten vier Generationen der Familie Margulies aus ganz Israel an, um das kostbare Klavier ihrer Familie zu sehen, das jetzt dauerhaft im Museum zur Gschichte des Holocaust in Yad Vashem ausgestellt ist. David „Dubi“ Margulies, Sohn von Shlomo Margulies, erzählte, wie überglücklich er an dem Tag war, als er erfuhr, dass das Klavier seiner Familie in der Internationalen Holocaustgedenkstätte ausgestellt werden würde. „Dies ist der perfekte Ort, um dieses kostbare Artefakt aufzubewahren, damit die ganze Welt es sehen und sich daran erinnern kann“, sagte Shlomo. „Das Klavier ist ein Zeugnis des einstigen Lebens und ein Zeugnis der unglaublichen Flucht meiner Familie aus Nazi-Deutschland im Jahr 1939."
Yad Vashem Objektsammlung
Mit freundlicher Genehmigung von Shlomo Margaliot (Margulies)