„Ein wehrhafter demokratischer Rechtsstaat braucht eine Polizei, die Anfänge von Antisemitismus nicht nur erkennt, sondern sie auch entschlossen bekämpft“, betonte der niedersächsische Landespolizeipräsident Axel Brockmann in seiner Rede am 16. Mai 2023 in Yad Vashem, der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Israels. Gemeinsam mit dem Direktor der Polizeiakademie Niedersachsen, Carsten Rose, unterzeichnete er eine neue Kooperationsvereinbarung mit Dani Dayan, dem Vorsitzenden Yad Vashems.
Ziel der Bildungszusammenarbeit ist es, die Ausbildung junger Polizistinnen und Polizisten in der Antisemitismusprävention zu verbessern. Neben virtuellen Fortbildungsangeboten sind regelmäßige Studienreisen zur Internationalen Schule für Holocaust-Studien in Yad Vashem geplant. Die Polizei Niedersachsen setzt damit ein klares Zeichen für ein kritisches Rollenverständnis und gegen jede Form von Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Sie ist bereits die vierte Landespolizei, die eine Zusammenarbeit mit Yad Vashem vereinbart. Die Bildungseinrichtung kooperiert zunehmend auch mit Innenministerien. Bundesinnenministerin Nancy Faeser unterzeichnete letztes Jahr in Yad Vashem eine Absichtserklärung, die den Weg für eine Zusammenarbeit mit Bundespolizei und Bundeskriminalamt ebnen soll.
In seiner Rede zeigte sich Landespolizeipräsident Brockmann besorgt über aktuelle antidemokratische Entwicklungen in Europa und betonte: „Angesichts des aktuellen Wiedererstarkens des Rechtspopulismus in vielen europäischen Ländern und leider auch in Deutschland ist es nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für uns als Polizei von zentraler Bedeutung, demokratische Haltungen zu fördern und jeder Form von Diskriminierung und Herabwürdigung anderer Menschen oder gesellschaftlicher Gruppen entschieden entgegenzutreten“.
Einschüchtern, verhaften, morden: „Polizeiarbeit“ in Nazi-Deutschland
Unter den Teilnehmenden der Delegationsreise befanden sich auch 18 Studierende der Polizeiakademie Niedersachsen, die in Yad Vashem ein zweitägiges Seminar besuchten. Bereits im Vorfeld der Reise nach Yad Vashem beschäftigten sich die Studierenden intensiv mit der Rolle der Polizei im NS-Regime und besuchten gemeinsam Vorträge und Workshops. Teil des Programms waren auch Exkursionen zu örtlichen Gedenkstätten, wie einer Pulverfabrik, in der Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter eingesetzt wurden, und der Besuch der Villa Seligmann in Hannover, um einen Eindruck jüdischen Lebens vor 1933 zu gewinnen.
Polizeigeschichte ist als Pflichtmodul im Curriculum des dreijährigen Bachelorstudiengangs fest verankert. Bereits im ersten Studienabschnitt setzen sich angehende Kommissaranwärterinnen und Kommissaranwärter mit der Vergangenheit der deutschen Polizei auseinander. Einer Vergangenheit, in der Polizisten selbst zu Verbrechern wurden – denn in Nazi-Deutschland bedeutete Polizeiarbeit, Regimegegner und Juden zu überwachen, einzuschüchtern und zu verhaften. Selbst vor Morden schreckte die Polizei nicht zurück. Einsatzgruppen im Rahmen der Operation Barbarossa übernahmen „Sonderaufgaben im Auftrage des Führers“. Polizisten schworen ihre Treue nicht einer Verfassung, sondern Adolf Hitler.
Die Polizei sah sich selbst weiterhin als „Freund und Helfer“ im Nationalsozialismus
Die Polizei hat ein ureigenes Interesse an Demokratie, sagt Thomas Eikhoff, der als Dozent an der Polizeihochschule Niedersachsens unterrichtet. „Sie ist immer die Institution, die sich ein autoritäres Regime als Erstes schnappt. Als Polizist musst du dir klarmachen: Wenn du dich nicht für Demokratie einsetzt, bist du am Ende derjenige, der rausfährt und Leute fürs Regime verhaftet – wenn du nicht selber verhaftet wirst. Das ist ein ganz einfaches Motiv, das jeder unserer Studentinnen und Studenten sofort versteht“. Neben dem Pflichtmodul im Bachelorstudium werden niedersächsische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bildungsprogramm „Polizeischutz für die Demokratie“ in der Antisemitismusprävention geschult.
„Vom Staat wird Polizeibediensteten stets vermittelt, auf der ‚richtigen Seite‘ zu stehen“, erläutert der Historiker Peter Römer. „Nicht die Rolle der Polizei änderte sich in der deutschen Geschichte, sondern die Gesetze – und für wen diese galten. Und die Gesetze änderten sich im Nationalsozialismus nur schrittweise. Für die Mehrheitsgesellschaft, die sogenannte ‚Volksgemeinschaft‘, blieb die Polizei dabei der ‚Freund und Helfer‘.“ So wurden aus Polizisten willige Helfer des NS-Regimes, oft ohne jegliche Zweifel an der eigenen Rolle.
„Unser Gesetz bestärkt uns darin, entscheiden zu können ‚Ich mache da nicht mit‘“
„Da haben Menschen mitgemacht, Menschen wie du und ich. Wir müssen uns dessen bewusst sein. Und uns dafür einsetzen, dass so etwas nicht wieder passiert“, betont Chris Heye, der sein Studium kürzlich abgeschlossen hat. Derzeit studieren an der Akademie etwa 2000 Studierende. Nach ihrem Abschluss werden die Polizeikommissarinnen und Kommissare landesweit in verschiedene Behörden entsendet. Was der Polizeibeamte in Yad Vashem gelernt hat, möchte er auf seinem beruflichen Weg mitnehmen. „Wir werden unsere Haltung in die Fläche tragen“, ist Heye überzeugt.
Das deutsche Gesetz gibt Polizeibeamt*innen das Recht, in Ausnahmefällen den Befehl zu verweigern. Ein solcher Fall liegt vor, wenn ein Verstoß gegen die Menschenwürde vorliegt. „Es ist wichtig, dass wir in der Polizei die Resilienz aufbauen, nicht einfach blind jeden Befehl auszuführen, falls so etwas wie damals noch einmal passiert“, findet Heye. „Wenn wir denken, ‚es kann doch nicht richtig sein, diese Menschen zu erschießen‘, müssen wir den Befehl verweigern. „Unser Gesetz bestärkt uns darin, entscheiden zu können ‚Ich mache da nicht mit‘“.
Zudem habe sich das Selbstverständnis der Polizei geändert. „Damals gab es eine repressive Polizei, die den Staat schützte. Da war es ein Affront, wenn jemand etwas gegen den Staat gesagt hat. Das hat sich geändert. Wir selbst verstehen uns als bürgernahe Polizei und nicht als Staatspolizei. Wir stehen nicht vor dem Staat, um den Staat zu schützen – natürlich schützen wir die Demokratie – aber wir arbeiten in erster Linie für seine Bürgerinnen und Bürger.“
Strategie gegen Antisemitismus schließt auch Sanktionen und Studien mit ein
Ende des Jahres 2020 gerieten mehrere Beamte der Polizei Osnabrück unter Verdacht, Bilder und Videos mit nationalsozialistischen Bezügen und fremdenfeindlichen Darstellungen in Chatgruppen geteilt zu haben. Seit Jahren stehen immer wieder Rassismus-Vorwürfe gegen deutsche Polizei- und Sicherheitsbehörden im Raum. Mit Mitteln aus dem Bundesinnenministerium wird bis 2024 eine bundesweite Untersuchung zu Rassismus in der Polizei durchgeführt. Daneben hat Niedersachsen eine eigene Polizeistudie in Auftrag gegeben.
Auch die Studierenden an der Polizeiakademie tauschen sich regelmäßig in Chatgruppen aus: „Ich merke da aber eine hohe Sensibilisierung. Wenn ein Kommentar fällt, der nicht angebracht ist, reagieren andere sofort darauf“, sagt Chris Heye. Die Polizei bezieht öffentlich klare Haltung gegen Antisemitismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. „Wir sind uns aber bewusst, dass es auch Leute in unseren Reihen gibt, die dazu nicht stehen“, räumt Andrea Marquardt ein, stellvertretende Direktorin der Polizeiakademie Niedersachsen. „Und da greifen dann Sanktionen. Und dann wird aufgeklärt, so wie das auch vorgesehen ist. Be- und entlastend. Und zwar schnellstmöglich.“
Beamte sollten frühzeitig ihre Vorgesetzten informieren, wenn sie etwas bemerken, auch wenn es schwierig sei. „Da geht es häufig um persönliche Vorteile, da geht es ums Anschwärzen, da geht es um all diese Dinge – das sind dann Momente, in denen wir Haltung zeigen müssen, und nicht den einfachen, sondern den schwierigen Weg gehen müssen. Und was dabei hilft, sind Bildung, Ermutigung und Vorgesetzte, die selbst Haltung zeigen – auch wenn der Weg Arbeit macht und unbequem ist.“