Die Geschichte der deutsch-jüdischen Malerin Charlotte Salomon ist sowohl erschütternd als auch faszinierend. Eine Reise voller persönlicher Tragödien, die in der Zeit des Zweiten Weltkriegs mit dem Holocaust endete.
Den Novemberpogrom erlebt Charlotte als 21-jährige in Berlin. In einer der fast 800 Gouachen ihres Werks „Leben? Oder Theater?” gibt sie dem Erlebten Ausdruck. Fast ironisch zeigt die Gouache des 9. November einen Ausschnitt der nationalsozialistischen Berliner Zeitung „Der Angriff”:
„Feiger jüdischer Mord aus dem Hinterhalt - im Ausland… Dies ist die letzte Schandtat von Judas Macht. Das deutsche Volk wird seine Rache nehmen. Deutsche Männer und Frauen: mit unserer Langmut gegen die jüdisch-verbrecherische Weltmacht ist es nun zu Ende.”
In der Nacht vom 9. auf den 10. November, während des Pogroms, ist Charlotte zu Hause. Ihre Zeichnung erzählt von der Masse, der Begeisterung, den Flaggen, dem Jubel und der Gewalt. Die Direktorin des Kunstmuseums in Yad Vashem, Eliad Moreh-Rosenberg, bemerkt zu dieser Darstellung:
„Es ist interessant, wie sie Farbe verwendet, das ganze Bild ist grün-braun, es ist buchstäblich die braune Pest."
Charlotte Salomon verlässt Deutschland nach dem Novemberpogrom und zieht nach Villefranche in Südfrankreich. Am Meer malt sie nur mit drei Grundfarben Gouachen mit beißender Ironie. Manche ihrer Zeichnungen sind komisch, manche tragisch. Von Dringlichkeit und Raserei getrieben, als würde Charlotte den bevorstehenden Tod spüren, setzt sie ihr Leben und das ihrer Familie in Bildern und manchmal in Musik um. Es umfasst fast 800 Gouachen von knapp 1.300, die sie innerhalb von 18 Monaten zwischen 1940 und 1942 produziert. Eine in gewisser Weise als Comic konzipierte graphische Novelle die sie selbst als „ein Singspiel” definiert, da sie musikalische Passagen enthält.
Ein Familienfluch
Charlottes frühes Leben ist gezeichnet von persönlichen Tragödien, ihr Lebensbeginn mit einem Familienfluch verhängt. Sie wird 1917 in eine wohlhabende jüdische Familie in Berlin geboren, deren Mutterlinie über drei Generationen hinweg Suizid beging: Ihre Mutter beendet ihr eigenes Leben, als Charlotte noch keine 9 Jahre alt ist, dann ihre Tante Charlotte, deren Vornamen sie trägt, ebenso wie ihre Urgroßmutter. Als ihre Großmutter sich vor ihren Augen umbringt, fühlt Charlotte tief in sich „die gleiche Veranlagung zu Verzweiflung und Tod". Aber sie versucht dagegen anzukämpfen:
„Lieber Gott, laß mich bloß nicht wahnsinnig werden!"
Sie beschließt, sich dem mörderischen Wahnsinn zu widersetzen und wählt das Leben. Um ihre Dämonen auszutreiben, beginnt sie mit der Schaffung ihres Meisterwerks „Leben? Oder Theater?”.
Überraschenderweise hat Charlotte alles klar in ihrer Erinnerung und im Auge behalten.
Sie malt den Aufstieg des Nationalsozialismus mit einem rohen und reifen Blick. Ihr Gouache reproduziert die tadellosen Reihen der SA - eine anonyme braune Masse - , die riesige Flagge mit dem Hakenkreuz, und im Hintergrund eine Stadt, die grau wird, um ein Schatten ihrer selbst zu werden.
„Sie hat die Klarheit und Intelligenz einer einsamen Person", erklärt Eliad Moreh-Rosenberg, Direktorin des Kunstmuseums von Yad Vashem:
„Als einzige Tochter einer depressiven Mutter und eines Chirurgenvaters, die von ihrer Haushälterin aufgezogen wurde, war sie seit ihrer Kindheit auf sich allein gestellt.“
Nach dem Tod ihrer Mutter heiratet ihr Vater die Opernsängerin Paula Lindberg. Das Paar bewegt sich in den Kreisen der deutschen intellektuellen Elite und lädt häufig zu sich ein.
Aus den Bekanntschaften mit den gebildeten Gästen heraus, entwickelte Charlotte ihre eigene Meinung und einen kritischen Sinn. Die schüchterne und zurückhaltende Charlotte entwickelt eine Beobachtungsfähigkeit, die ihren Blick auf die Welt schärft.
Sie malt die Außenwelt, ebenso wie ihre eigene. Ihre Arbeit pendelt unaufhörlich zwischen diesen beiden. Im Jahr 1933 wird Paula, dem Vorbild für Paulinka in „Leben? Oder Theater ?”, auf der Bühne ausgebuht und darf nicht mehr vor einem arischen Publikum auftreten. Charlottes Vater, ein bekannter Chirurg und Universitätsprofessor, wird aus dem Krankenhausdienst entlassen. Charlotte will nicht mehr zur Schule gehen und beschließt zu zeichnen. Mit einem ungewöhnlichen Gefühl der Selbstironie, wird sie zu einer begabten und fleissigen Studentin, die an der Akademie der Künste aufgenommen wird. Doch die Akademie zog es vor bei einem Wettbewerb den 1. Preis der hübschen Barbara, einem blonden arischen Model mit blauen Augen, zu verleihen, den eigentlich Charlotte verdient hätte.
Mitte der 1930er Jahre ist Hitler für Charlottes Eltern ein Verrückter, und sie sind der Überzeugung, dass diese ganze Maskerade bald vorübergehen wird. Der Novemberpogrom ändert diese Einstellung völlig: Sie verstehen, dass die Gefahr nicht vergehen wird.
Ein böses Erwachen
Nach der Pogromnacht kommt es in ganz Deutschland zu Verhaftungen jüdischer Bürger. Charlotte stellt auch dies in einer Gouache dar: Gesichtslose Männer treffen bei ihnen zuhause ein, um Charlottes Vater zu verhaften. Sie sagen vehement: „Machen Sie keine Widerstände“ und bringen ihn ins Lager Sachsenhausen. Charlotte ist bei der Verhaftung anwesend und beobachtet sie aus dem Hintergrund.
Das Haus der Familie steht unter Spannung. Charlotte streitet sich mit ihrer Stiefmutter und verlässt das Haus. Es folgt eine Zeichnung, in der sie mit sich selbst in einen Dialog tritt: „Ich werde in ein Café gehen. Doch da steht ja überall dran: 'Für Juden ist der Eintritt hier verboten.' Ich werde trotzdem gehen. Man sieht es ja nicht gleich, dass ich 'ne Jüdin bin. Ich weiss sonst nicht, wo ich bleiben soll. Ich kann ganz unmöglich jetzt heraufgehen.'”
„Diese Szene zeigt gut die tägliche Tragödie“, erklärt Eliad Moreh-Rosenberg.
„Charlotte ist mit dramatischen Ereignissen konfrontiert: Juden werden festgenommen, geschlagen, Geschäfte geplündert und ihr Vater wird verhaftet. Die persönliche Geschichte hat sie mit allen jungen Mädchen ihres Alters gemeinsam, die sich im Jugendalter mit ihrer Mutter streiten. Einerseits will sie nicht nach Hause gehen, andererseits sind Cafés für Juden verboten. Sie ist in der Geschichte gefangen, hin- und hergerissen zwischen ihren persönlichen Problemen und den äußeren Problemen des antisemitischen Kontextes."
Der Blick des Künstlers
Inzwischen ist Charlottes Vater im Lager Sachsenhausen interniert. Charlotte malt mit solcher Genauigkeit und Schärfe - als hätte sie die Szene miterlebt - diesen großen Mediziner, der zu harter körperlicher Arbeit gezwungen wurde und von einem Lagerleiter mit sadistischer Miene gefoltert wird: „Hier wird gearbeitet und nicht gefaulenzt.” Die Direktor des Yad Vashem Kunstmuseums erklärt:
„In wenigen Zügen drückt die Zeichnung auch den Minderwertigkeitskomplex dieses Tyrannen aus, der nie zur Schule gegangen ist und sich einem Professor gegenübersieht, den er demütigen kann. Charlotte zeichnet ihren Vater, klein, gebeugt, abgemagert, einer dominanten Masse gegenüber, mit immer denselben Brauntönen. “
Dank Paula kehrt Charlottes Vater aus dem Lager zurück. Im Foyer wird ein Empfang gegeben, den Charlotte „Die deutschen Juden“ nannte. Einige Wochen nach der Pogromnacht haben sie keine andere Wahl. Sie müssen fliehen. Charlotte beschreibt den gesellschaftlichen Empfang bei dem Berlins jüdische Oberschicht in Alarmbereitschaft ist. Der lebhafte und klare Blick der Künstlerin auf die Geschehnisse und die Gesellschaft ist faszinierend.
Charlottes Vater erklärt, dass er zunächst seine Tochter wegschickt. Ein Paar beschließt, nach Australien zu fahren. Andere reisen in die USA, um bekannte Künstler zu werden. Wir tauchen in ihre Arbeit ein, manchmal wie in ein privates Tagebuch, manchmal wie in ein Geschichtsbuch. Der Künstlerin gelingt es, durch eine scharfe Aufnahmefähigkeit der Ereignisse eine ergreifende Realität darzustellen.
Im Dezember 1938 reist sie nach Villefranche-sur-Mer in der Region Nizza, wo sie sich ihren Großeltern anschließt. Dort, zwischen einer Suizid gefährdeten Großmutter und einem bitteren Großvater, der sie als Dienstmädchen ansieht, erfährt sie plötzlich von dem schweren Familienerbe, das sie belastet, und wählt das Malen, um dem Tod zu trotzen.
Charlotte Salomon beendet ihre meisterhafte Arbeit im Laufe des Jahres 1942. Sie hatte ihre Dämonen überwunden, bevor sie von dem Lauf der Geschichte eingeholt wird:
Charlotte wird im September 1943 verhaftet und bei der Ankunft in Auschwitz am 10. Oktober ermordet. Am Tag ihres Todes war sie im fünften Monat schwanger.
Dieser Beitrag basiert auf einem Blog, der ursprünglich auf französisch verfasst wurde.
Dieser Blog wird großzügig unterstützt von der Konrad-Adenauer-Stiftung