Musik ist Teil aller menschlichen Kulturen. Ganz besonders im Deutschland der Vorkriegszeit wurde diese Kunst, die zur Erhebung der Seele beitragen soll, sehr hoch angesehen. Allerdings wurde sie von den Nazis missbraucht, ihrer eigentlichen Funktion beraubt und mit Folter und Tod in Verbindung gebracht. In den Lagern wurde der Massenmord oft von jüdischen Orchestern begleitet, um die SS abzulenken, aber auch um das Grauen hinter den Geigenklängen zu verbergen. Ein Interview mit Tamar Machado-Recanati, Musiktherapeutin, Dozentin und Spezialistin für jüdische Musik während des Holocaust. Als Musikwissenschaftlerin war sie Teil des Teams, das das Museum zur Geschichte des Holocaust in Yad Vashem entwarf.
Wann begannen die Nazis Musik in den Lagern einzusetzen?
In den Konzentrationslagern gab es vom Beginn ihrer Errichtung im Jahr 1933 Orchester. Die ersten Zeugnisse in direktem Zusammenhang mit der Shoah stammen jedoch aus der Zeit des Kriegsbeginns. Seit der Invasion Polens griffen die Deutschen auf Musik zurück, um die Schreie und die Trauer der Juden zu übertönen. Am 1. Februar 1940 beschlagnahmten die Nazis ca. 300.000 heilige Bücher der Lubliner Jeschiwa – Gebetsbücher und sogar sehr alte Thorarollen –, um sie auf dem Platz vor der Jeschiwa zu verbrennen. Die Masse an Büchern war so groß, dass das Feuer 24 Stunden lang brannte. Rundherum versammelten sich Juden, weinend und trauernd um diese religiöse Katastrophe. Die Deutschen brachten ein Orchester mit, das beschwingte Musik spielte, um das Klagen und Stöhnen zu übertönen.
War Musik für die Nazis demnach eine Möglichkeit, ihre Verbrechen zu vertuschen?
Es gibt viele Beispiele von Orchestern, die die Schreie der Juden maskieren sollten. Dies war zum Beispiel beim Massaker von Babi Jar 1941 der Fall. Die SS befahl den Kiewer Juden, sich am Morgen des 29. September, Jom Kippur, zu versammeln. Mehr als 33.000 Juden wurden an den Rand einer Schlucht in Babi Jar gebracht und ermordet. Einige der Entkommenen sagten, die Deutschen hätten Lautsprecher installiert, um mit der Orchestermusik, die Walzer oder fröhliche Lieder spielte, die Schreie der Opfer zu übertönen. Dies geschah auch im November 1943 in Majdanek, als die Deutschen 18.000 Juden aus dem Lager und 30.000 aus den Außenlagern ermordeten. Auch hier wurden während des 2-tägigen Massakers Lautsprecher aufgestellt, damit die Bevölkerung die Schreie der Juden nicht hören konnte.
Gab es in allen Vernichtungslagern Orchester?
Während des Holocaust gab es 6 Vernichtungslager: Chelmno, Belzec, Treblinka, Sobibor, Majdanek und Auschwitz-Birkenau. In all diesen Lagern gab es Orchester oder Chöre, abgesehen von Chelmno, eine Art Lager auf Rädern, in dem die Juden - meist aus dem Ghetto Lodz - gleich nach ihrer Ankunft in Lastwagen, deren Auspuffrohre in das Innere des Fahrzeugs geleitet wurden, vergast wurden. In Chelmno gab es keine Gaskammern. Aber in den anderen fünf Vernichtungslagern gab es Orchester, die einige Monate oder Jahre existierten, manchmal während der gesamten Dauer der Lagertätigkeit.
Wir wissen, dass es in Treblinka drei Orchester gab, von denen eines von Arthur Gold dirigiert wurde, einem bekannten polnischen Jazz- und Tangokomponisten, der aus dem Warschauer Ghetto kam. Die Musiker trugen spezielle Anzüge und spielten bei den Mahlzeiten der Deutschen mit dem Gesicht zum Fenster.
Wer hat die Entscheidung getroffen, Orchester zu gründen?
Anders als man meinen könnte, war dies kein Befehl Himmlers, der an der Spitze der SS stand. Es war jedes Mal eine interne Entscheidung des Lagerkommandanten, der auch über die Wahl des Repertoires, der Musiker, Zeit und Ort entschied.
Die Orchester sollten nicht nur zum Vergnügen der SS oder des Lagerkommandanten auftreten, sondern auch ein ganzes Repertoire beschwinglicher Musik kennen, die sie während der Folterungen und Vernichtungen spielen mussten.
Wie war es in Auschwitz?
In dem riesigen Komplex von Auschwitz gab es unserer Meinung nach sechs Orchester und einen Chor: ein Orchester und einen Chor in Auschwitz I, mindestens zwei Orchester in Auschwitz II (Birkenau), wo sich die meisten Gaskammern befanden und zwei in Auschwitz III (Buna-Monowitz) mit seinen großen Fabriken wie der IG Farben. In Auschwitz I und II sollten die Orchester morgens und abends bei dem Verlassen und der Rückkehr der Häftlinge von der Arbeit spielen. Es waren entweder Märsche oder antisemitische Lieder. Die Schritte der Gefangenen waren der Rhythmus - 1/2/3/4. Primo Levi erzähle später, wie es der Musik gelungen sei, diese seelenlosen Körper wie Roboter zum Funktionieren zu bringen und dass es ohne sie Stunden gedauert hätte, die erschöpften Häftlinge aus dem Lager und wieder zurück zu holen.
Dieses deutsche Bedürfnis, im Rhythmus zu marschieren, findet sich auch in der Aussage von Dov Freiberg, einem derjenigen, die während des Aufstands von Sobibor fliehen konnten: „Es war verboten, ohne Gesang zu gehen. Wir mussten auf Polnisch oder Jiddisch singen, und wenn es nicht stimmte, brachten sie uns um. "
Was ist mit den Orchestern, die am Eingang der Gaskammern spielten?
Generell konnten die Lagerorchester gemischt, also aus Juden und Nichtjuden zusammengesetzt sein - manchmal auch ganz ohne Juden. Aber diejenigen, die am Eingang der Gaskammern spielten, bestanden ausschließlich aus jüdischen Musikern.
In Majdanek traf im August 1943 ein Transport mit 200 jüdischen Waisenkindern ein: Kleinkindern von wenigen Monaten bis zu Kindern im Alter von 12 Jahren. Sofort wurden sie in die Gaskammern gebracht, während dem Orchester befohlen wurde, jiddische Schlaflieder zu spielen. Sie können sich vorstellen, was die Musiker in diesem Moment fühlten, die diese Melodien ihren eigenen Kindern, die schon lange tot waren, vorgespielt und -gesungen hatten und nun die letzten Momente dieser Kinder begleiteten. Und diese Kinder, von denen einige alt genug waren, um sich an die Schlaflieder zu erinnern, verstanden, was sie erwartete. Musiker und Kinder wussten genau, dass diese Musik sie für immer einschläfern wird. Wir können hier von musikalischem Sadismus sprechen.
Auch in Belzec spielte neben den Gaskammern und während der Folterungen ein Orchester. In Auschwitz sprach nur ein Überlebender von einem Orchester am Eingang zu den Gaskammern. Ansonsten kennen wir keine weiteren Zeugnisse eines dort im Lager stationierten Orchesters, weder von den Überlebenden noch von den jüdischen Kommandos, die für die Beseitigung der Leichen verantwortlich waren.
Hat das Spielen in einem Orchester die Überlebenschancen erhöht?
In der Regel war es ein Ticket zum Überleben, in einem Orchester zu sein. Die Behandlung von Musikern war meist besser als die anderer Häftlinge. Die Geschichte von Szyimon Laks, einem französischen Juden, der zwischen 1943 und 1944 in Birkenau überlebte, weist in diese Richtung. Wir haben auch die Zeugnisse der Mitglieder des Auschwitzer Frauenorchesters unter der Leitung von Alma Rosé, die sich für bessere Lebensbedingungen einsetzte: Proben drinnen und nicht draußen, Befreiung von Zwangsarbeit, um üben zu können, Ruhemöglichkeit während des Tages. Die Musiker von Birkenau schliefen zuzweit und nicht zu acht auf einer Strohmatratze, profitierten von wöchentlichem Wechsel der Bettwäsche, einer Dusche pro Woche, einem Brot für 4 Personen. Von den 40 Musikern des Orchesters überlebten 38 dank ihrer besseren geistigen und körperlichen Verfassung.
Allerdings haben nicht alle den Holocaust überlebt. Die Männer und Frauen der Orchester waren in den Augen der Nazis nicht wertvoller als die anderen Gefangenen. Sie verdankten ihr Überleben nur dem Beherrschen eines Instruments und der Lust der Nazis auf Musik. Im Lager Janowska zum Beispiel entstand ein Orchester hervorragender jüdischer Musiker aus Lemberg. Aber als die Deutschen 1943 beschlossen, alle Juden im Lager zu töten, wurden auch die Musiker nicht verschont. In den Augen der Nazis waren die Männer und Frauen der Orchester vor allem Häftlinge und Juden.
Dieser Blogbeitrag wurde ursprünglich auf Französisch verfasst.