„Für jeden von uns war der Aufenthalt im Kinderheim wie ein Neubeginn – ein Wiedereintritt ins Leben.”
(Ewa Goldberg)
„Wiedereintritt”, nicht „Rückkehr” ins Leben. Die Wortwahl der Überlebenden spricht Bände: Für verwaiste Kinder nach dem Holocaust gab es keinen Anknüpfungspunkt an ihr vorheriges Leben, keine Möglichkeit der Rückkehr. Es gab kein Zuhause, das sie wieder aufgenommen hätte, keine Eltern oder Familien, zu denen sie hätten zurückkehren können. Die meisten der Kinder, die nach Otwock kamen, hatten im Versteck oder unter gefälschter Identität überlebt. Sie hatten mit der ständigen Angst vor Entdeckung gelebt, angewiesen auf den guten Willen von Fremden und gleichzeitig der Gefahr ausgesetzt, von eben diesen verraten zu werden. Meist allein, ohne die Liebe und Zuneigung ihrer Eltern, denen man sie entrissen hatte, war ihre Kindheit vom Überlebenskampf geprägt.
In Otwock wurde ein spezielles Kinderheim eingerichtet, das den körperlichen und emotionalen Bedürfnissen dieser Kinder gerecht werden und ihnen einen Neubeginn - einen Wiedereintritt in das Leben - ermöglichen sollte.
Der Beginn des Kinderheims
Unmittelbar nach der Befreiung im Januar 1945 traf die Holocaust-Überlebende Franciszka Oliwa in Otwock ein, um nach Verwandten zu suchen. Dort begegnete sie einer Gruppe ausgehungerter Kinder, die Lumpen trugen und von einem sowjetischen Soldaten begleitet wurden. Der Soldat erklärte ihr, es handle sich um verlassene jüdische Kinder und bat sie, sich ihrer anzunehmen. Als sie entgegnete, sie habe nicht einmal ein Zuhause für sich selbst, führte sie der Soldat in eine verlassene Wohnung auf der Bolesława Prusa Straße 11, deren Fenster geborsten waren und in der es weder Möbel, noch Heizung oder fließendes Wasser gab.
Ihr wurde die Verantwortung für mehr als zehn jüdische Waisenkinder übertragen. Dem Kommandanten eines nahe gelegenen sowjetischen Feldlazaretts ging die Situation der Kinder ans Herz, und er zeigte seine Hilfsbereitschaft, indem er Papiermatratzen und Decken aus Lazarettbeständen zur Verfügung stellte. Er half, die Fenster zu reparieren und lieferte Schürzen aus dem Krankenhaus als Kleidung für die Kinder.
Das Zentralkomitee der Juden in Polen (CKZP) und der Joint unterstützten das Heim und begannen, die Lebensbedingungen in ihm zu verbessern. Bis Juni 1945 waren dort etwa 130 Kinder untergebracht, die den Holocaust überlebt hatten.
Ankunft
Viele der Kinder hatten im Versteck unter extremen Bedingungen leben müssen, waren schwach und krank. Eine der ersten Prioritäten war die Wiederherstellung ihrer Gesundheit und die Gewährleistung einer angemessenen medizinischen Versorgung. Eines der Kinder war zum Beispiel in einem unterirdischen Loch versteckt worden und hatte daher die Bewegungsfunktionen der Beine fast vollständig verloren. Teilweise gelähmt, musste das Kind gesund gepflegt werden und wieder laufen lernen.
In Otwock trafen die Überlebenden zum ersten Mal andere Kinder, die Ähnliches erlebt hatten wie sie. Zum ersten Mal konnten sie mit anderen Kindern spielen und Freundschaften schließen, ohne ihre wahre Identität verbergen zu müssen, und einfach Kinder sein.
Die Überlebende Wiktoria Blum beschreibt die Zeit in Otwock:
„Wir waren sehr froh, zusammen mit all den anderen Kindern im Kinderheim zu leben. Sie waren im Wesentlichen unsere ersten Freunde. Den ganzen Krieg über hatten wir praktisch keine Freunde, oder wir konnten nicht frei spielen. Und selbst wenn wir mit einigen Kindern spielten, waren wir uns ängstlich bewusst, etwas verbergen zu müssen, nicht offen und aufgeschlossen sein zu können. Zum ersten Mal waren hier Kinder, mit denen wir befreundet sein konnten.”
Die Mitarbeiter des Kinderheims
Die meisten Pädagogen und Mitarbeiter waren ebenfalls Holocaust-Überlebende, die in ihrer Arbeit eine Mission sahen, eine Antwort auf die Verluste, die sie im Holocaust erlitten hatten. Dank ihnen fanden die Kinder eine liebevolle und warme menschliche Umgebung, die weit über die zwischen Erziehern und Schützlingen üblichen Beziehungen hinausging. Wiktoria Blum erzählt:
„Vor dem Schlafengehen erzählte jeweils eine der Erzieherinnen eine Geschichte, sie sprach mit jedem Kind und streichelte ihm den Kopf. […] Die Erzieherinnen, die den Krieg mitgemacht und ihre Familien verloren hatten und allein zurückgeblieben waren, gaben ihre ganze Liebe den Kindern.”
Doch nicht nur Liebe und Zuneigung gaben die Erzieherinnen weiter. Sie hatten auch die Aufgabe, die Kinder auf ein normales Leben vorzubereiten, sie an Regeln und alltägliche Abläufe zu gewöhnen und ihre Wissenslücken zu füllen.
Wiktoria Blum erinnert sich:
„Es gab Kinder, die keinerlei Lern- oder Arbeitsgewohnheiten hatten […] Es kamen ältere Kinder dazu, die nie irgendwelche Bildung erhalten hatten. Sie mussten vorbereitet werden, um eine Schule besuchen zu können.“
In dem Bemühen, die Kinder an ein geregeltes Leben zu gewöhnen, wurde der Tagesablauf auch mit Freizeitaktivitäten gestaltet, die den Kindern Ordnung vermittelten und Freude bereiteten, Aspekte der Kindheit, derer sie während des Holocaust beraubt worden waren.
Gleichzeitig fungierten alle Erzieher als Psychologen. Sie ließen alle Kinder ihre Geschichten und Erlebnisse erzählen und baten sie, diese niederzuschreiben. Dies war für sie eine Möglichkeit, sich mit den Schrecken der Kriegsjahre auseinanderzusetzen und damit den Heilungsprozess zu beginnen.
Mehr als nur ein Dach überm Kopf, stellte das Kinderheim in Otwock vielmehr eine wichtige Wegstation dar, die den Kindern den Wiedereintritt ins Leben überhaupt erst ermöglichte. Freundschaften und das Personal ersetzen die verlorenen Familien und gaben ihnen ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit. Die verlorene Kindheit trat langsam hinter Spielen und Freizeitaktivitäten zurück. Nach den Verlusten und Schrecken des Krieges war es eine „Zeit zum Heilen" (Prediger 3,3).