Das Thema Holocaust ist in deutschen wie auch in israelischen Curricula noch immer im letzten Drittel der Schulzeit angesiedelt. Mit einiger Berechtigung gehen die Lehrplanautoren davon aus, dass die entsprechenden Lerninhalte hohe psychologische Belastungen für die Lernenden verursachen und kognitiv wie emotional erst ab dem 15./16. Lebensjahr bewältigt werden können.
Gerade junge Lernende können durch unbedachte Konfrontation mit entsprechendem Unterrichtsmaterial Symptome einer sekundären (vikariierenden) Traumatisierung entwickeln, die sorgfältigen und psychologisch angemessenen Umgang durch die Lehrperson erfordern.
Zugleich scheint sich der Ansatz durchzusetzen, sich dem Holocaust über den Seiteneinstieg durch andere Fächer bereits in der Grundschule bzw. in der Unterstufe (vor allem im Sachkundeunterricht oder im Deutschunterricht durch die Behandlung entsprechender Texte) anzunähern.
Gerade in der israelischen Gesellschaft ist aufgrund der nahezu unausweichlichen Präsenz des Themas – unter anderem durch die am jährlichen Holocaustgedenktag (IomHaShoah) landesweit ertönende Sirene, die spätestens ab dem Vorschuljahr pädagogisch adäquat thematisiert werden muss – die Kluft zwischen der pädagogischen Notwendigkeit eines verlässlichen Konzepts altersgemäßer Erstbegegnung im Grundschulbereich und den vorwiegend emotional begründeten Vorbehalten einer Erwachsenengesellschaft, die den Kindern gegenüber zu einer „Schonhaltung“ tendiert, besonders deutlich wahrzunehmen. Pädagogen und Eltern reagieren oft gerade in Israel mit Skepsis darauf, die Kinder im frühen Alter mit dem Thema zu konfrontieren.
Viele Eltern verspüren das Bedürfnis, ihre Kinder vor der Schwere des historischen Ereignisses und seiner Folgen so lange wie möglich abzuschirmen, um sie emotional nicht zu überfordern.
Pädagogen dagegen verknüpfen ihre Bedenken auch mit der Frage, ob es möglich sei, der Komplexität des Gegenstandes in der Unterstufe fachlich gerecht zu werden, ohne zu banalisieren, auf manipulative Weise zuzuschneiden oder happy end-Geschichten zu konstruieren.
So verständlich und berechtigt diese Zweifel auch sind, so übersehen sie einen Umstand, der es unverzichtbar erscheinen lässt, das Thema Holocaust bereits an jüngere Lernende zu vermitteln:
Kinder wachsen nicht innerhalb eines entwicklungspsychologisch abgesteckten Idealrahmens auf, sondern auch in einem medial vermittelten Raum, in dem durch die unterschiedlichsten Kanäle und Genres korrekte Informationen und Wissen ebenso zugänglich sind wie manipulative Geschichtskonstruktionen, Halbwahrheiten und Stereotype. Auf dieser Ebene findet die Konfrontation mit dem Holocaust in der Regel im Abseits jedes gesteuerten und pädagogisch betreuten Lernprozesses statt. Zugleich machen die Codes und Bilder des Holocaust einen festen Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses aus, den die deutsche (ebenso wie die israelische) Gesellschaft als Bezugsrahmen entwickelt hat. Dass dieser Bezugsrahmen sowohl gesellschaftlich integrative als auch ausschließende Funktion einnehmen kann, hat Viola Georgi im Zusammenhang mit Holocaustunterricht in Lerngruppen mit (teilweise) migrantischem Hintergrund ausgeleuchtet.
Im Grunde gilt die Debatte der Grundschuldidaktik (die ja nicht immer mit Eltern und praktizierenden Pädagogen geführt wird) nach dem Ob überhaupt seit etwa 15 Jahren als abgeschlossen, während aber, wie Detlef Pech feststellt, „bislang wenige Angebote zur Auseinandersetzung mit Holocaust/Nationalsozialismus für Kinder“ existieren, die zudem kaum konzeptionell beschrieben oder evaluiert werden.
Der Modus, in dem die Erstbegegnung mit dem Holocaust noch immer überwiegend stattfinden dürfte, ist gekennzeichnet von unfreiwilliger Konfrontation durch Medien, Gesellschaft und Familie einerseits und gesuchter (weil Zugehörigkeit versprechender) Begegnung andererseits. Beides findet in der Regel im pädagogisch ungeschützten Raum statt. Ein Konzept, das hier ansetzen möchte, sollte sich nicht auf die altersadäquate Vermittlung von historischem Wissen reduzieren.
Davon geht auch Ido Abram aus, der in seinem sogenannten „Drei-Punkte-Programm“ für dreibis zehnjährige Kinder die Aspekte Wärme („eine Atmosphäre von Geborgenheit, Sicherheit und Offenheit“), Empathie (und zwar „mit Tätern, Opfern und Zuschauern“, da keinem Menschen auch nur eine dieser Rolle wirklich fremd sei) und Autonomie („Fähigkeit zum Nachdenken, zur Selbstbestimmung, zum Nonkonformismus“) als Basis für das Lernen über den Holocaust mit jüngeren Kindern anführt.
Ich möchte vorschlagen, auf der Grundlage dieses Verständnisses, das Holocaustunterricht in der Unterstufe ausdrücklich nicht als reines Geschichtelernen deklariert, weiterzudenken. Hier scheint es mir wichtig, auf einen wesentlichen Unterschied der Lernsituation in Deutschland und Israel hinzuweisen. Während in Israel (oder generell in jüdischem Lernumfeld) die Begegnung mit dem Gegenstand Holocaust in keiner Weise kongruiert mit einer Erstbegegnung mit dem Thema Judentum/Jüdisches Leben, kann in Deutschland (oder generell in nicht-jüdischem Lernumfeld) bereits der Ausgangspunkt einer Narration eines jüdischen Zeitzeugen eine denkbar problematische Überlappung beider Komplexe (Holocaust und Judentum) hervorrufen. So kann in jüdischem Lernumfeld beispielsweise der Einstieg in die Geschichte „Gern wäre ich geflogen – wie ein Schmetterling“ von Naomi Morgenstern völlig problemlos verlaufen: Gleich im zweiten Satz teilt die Protagonistin und Ich-Erzählerin den Lesern nicht ohne Stolz und Selbstbewusstsein mit, dass sie selbst und „alle Mitglieder meiner Familie (...) Juden“ waren und sind.
Für nichtjüdische eser erscheint es hingegen erforderlich, Judentum bzw. Jüdisches Leben im Vorfeld in den Blick zu nehmen, um zu vermeiden, dass Judentum und Holocaust als untrennbar miteinander verzahnte Lerngegenstände wahrgenommen werden. Im Idealfall geschähe dies weniger durch eine rein glossarische Begriffsklärung, sondern vielmehr durch eine Begegnung mit jüdischem Leben heute.
Eine frühe Erstbegegnung mit dem Thema Holocaust kann auf mehreren Ebenen ansetzen:
1. Aufbau einer empathischen Lernhaltung
Empathie sollte nicht mit Identifikation gleichgesetzt werden. Während Identifikation das vollständige Aufgehen des Lernenden in der Figur des Protagonisten bedeutet, kann Empathie nach einem Konzept von Paul Ekman als kognitive Reaktion auf die Emotion eines Anderen verstanden werden. Kognitive Empathie ermöglicht es dem Lernenden zu erkennen, was der andere fühlt, emotionale Empathie geht einen Schritt weiter, indem sie uns fühlen lässt, was der andere fühlt.
Kognitive Empathie als Lernhaltung gewährleistet also zum einen die von Abram geforderte Autonomie des Lernenden, die an die Stelle einer Überwältigungspädagogik tritt, die bestimmte, von der Lehrperson als adäquat empfundene (und überwiegend emotionale) Reaktionsweisen der Schüler bewusst herbeiführen möchte. Zum anderen erfordert kognitive Empathie ein hohes Maß an Aufnahmefähigkeit vom Lernenden selbst: Um nachvollziehen zu können, wie sich beispielsweise der Protagonist einer biographischen Narration fühlt, wird Detailwissen über dessen Lebenswelt und über die Bestandsmerkmale seiner konkreten Lebenssituation benötigt. Folgende Kriterien sollten bei einer sorgfältigen Materialauswahl berücksichtigt werden, um das Erlernen einer empathischen Lernhaltung zu fördern:
- Lernen wird über biographische Narrationen eines Individuums vollzogen.
- Die Beschreibung der Lebensweise des Protagonisten vor dem Einsetzen seiner Verfolgungsgeschichte ermöglicht die Wahrnehmung dieser Person als selbstbestimmtes Individuum, das innerhalb einer bestimmten Umgebung seinem eigenen Lebensentwurf nachgeht.
- Der Protagonist der Geschichte befindet sich in etwa im Alter der Lerngruppe und entstammt einem Kulturkreis, der den Lernenden nicht a priori fremd erscheint (wie zum Beispiel chassidisches Judentum).
- Die Narration bindet in geeigneter Weise Nebenfiguren mit ein, die den Verlauf der Geschichte des Protagonisten beeinflussen: Zuschauer, Mitläufer, Profiteure, Täter, Helfer und Retter. Dabei müssen diese Figuren stets als menschliche Individuen erkennbar bleiben. Täterfiguren dürfen nicht ins Monströse abgleiten, Retterfiguren nicht als Heilige überzeichnet werden. Geschichte wird erst dann als komplexes Geflecht menschlicher Handlungsweisen erkennbar, wenn die Menschen selbst in ihren Entscheidungen und Unterlassungen, in ihren Schwächen und in ihrem Mut, also in der Ambivalenz menschlichen Verhaltens wahrgenommen werden können. Je jünger die Zielgruppe der Lernenden, desto zentraler steht die Figur des Protagonisten im Vordergrund und desto undifferenzierter erscheinen die Nebenfiguren.
- Die Narration ermöglicht den Lesenden, an verschiedenen Wendepunkten der Geschichte Handlungsoptionen bzw. Dilemmasituationen der Protagonisten zu erkennen und zu analysieren. An die Stelle eines deterministischen Geschichtsverständnisses tritt dadurch der Einblick in die menschlichen Dimensionen der Geschichte, der wiederum die Voraussetzung für eine Lernhaltung ist, die Verstehen vor Verurteilen setzt, ohne dabei die Beurteilung von Geschichtsverläufen aufzugeben.
- Die Narration enthält positive Aspekte: Es wird die Geschichte eines Protagonisten gewählt, der überlebt hat und dem Hilfe von außen zuteil wurde. Die Familienkonstellation des Protagonisten ist nicht zerrüttet, sondern von Zusammenhalt und Solidarität gekennzeichnet. Die Geschichte des Protagonisten nach der Befreiung ist Teil der Narration und bietet den Lernenden den Blick auf die Person des Überlebenden, die Schritte zurück ins Leben unternimmt, Entscheidungen trifft und sich bei allen Schwierigkeiten als lebens- und liebesfähig erweist.
Das Gelingen eines empathischen Lernprozesses ist von der Beschaffenheit des angebotenen Materials ebenso abhängig wie von der vermittelnden Lehrperson, die über ausreichende Souveränität verfügen sollte, um tatsächlich autonome Schülerreaktionen zuzulassen bzw. herauszufordern. Dem Unterrichtenden müssen ferner genügend anschauliche Detailinformationen zur Verfügung stehen, durch die es gelingen kann, die Figur des Protagonisten als gleichwertiges Gegenüber den Lernenden vorzustellen und damit auch erst Prozesse der Empathiebildung (zu der auch klare Selbstabgrenzung gehören kann) zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang soll das Dilemma der Pädagogen angesprochen werden, die durch das im Vorfeld kaum abschätzbare Vorwissen der Schüler im Handumdrehen aus ihrem pädagogischen Konzept kommen können. Unvermittelte Aufrufe von Begriffen aus dem Kontext der eigentlichen Massenvernichtung während des Unterrichts sind weder vermeidbar noch aufschiebbar. Sie müssen vom Unterrichtenden aufgenommen, knapp bestätigt bzw. korrigiert und kontextualisiert werden, ohne jedoch Raum für Vertiefung anzubieten. Je dichter und anschaulicher das eigentliche Unterrichtsmaterial, also die Narration selbst darstellbar ist, desto besser kann der Übergang zurück zum Einzelschicksal gelingen.
2. Selbstschutz, Historizität und Handlungskompetenz als Ziele immanent-historischen Lernens
Die Vermittlung von Geschichte durch individuelle, authentische Zeitzeugennarrationen bedeutet zunächst einen immanent historischen Zugang zum Thema Holocaust, durch den induktiv Grundbegriffe, Konzepte und Abläufe der Geschichte des Holocaust vermittelt werden, ohne sie jedoch dezidiert lexikalisch bzw. chronologisch (etwa durch das Medium Zeitstrahl) einzubetten. Die Kennzeichnungspflicht der Juden in den NS-besetzten Ländern, die Phase der Ghettoisierung und ihre Auswirkung auf das Leben der Opfer, deren faktische Ahnungs- und Hilflosigkeit, ihre Überlebensstrategien sowie die Hilfe als auch der Verrat, den sie durch ihre nicht-jüdische Umwelt erfuhren, die Befreiung und der Aufbau eines Lebens nach (und mit) dem Trauma der Verfolgung: All das sind wesentliche Bestandteile der Geschichte des Holocaust, die von jungen Lernenden erschlossen werden können. Sie erhalten damit ein – wenn auch grob gerastertes und lückenhaftes – Begriffsnetz zum Holocaust. Dieses weist durch die Narration des Einzelschicksals innere Zusammenhänge auf und kann als kontextualisierendes Instrumentarium die Lernenden dabei unterstützen, aus anderen Lernkonstellationen hinzukommende, neue Begriffe und Bilder einzufügen, zuzuordnen oder auch einfach nur abzulegen. Damit erlangen die jungen Lernenden bei der Aneignung eines Themas, das per se verletzende Dimensionen in sich birgt, eine souveränere Lernhaltung, die es ihnen ermöglicht, sich auch ein Stück weit selbst vor potentiellen Verletzungen zu schützen. Lernziel ist also an erster Stelle nicht die Vermittlung historischer Zusammenhänge und Abläufe, sondern der Aufbau einer Grundstruktur, an die im weiteren, vor allem außerschulischen Lernen angeknüpft werden kann.
Den Lernenden soll zweitens ein Einblick in die Geschichte des Holocaust vermittelt werden, der sie dazu befähigt, die Dimension der Historizität menschlicher Existenz zu erkennen. Der Holocaust wird als eine weder geographisch noch zeitlich isolierte Periode nachvollziehbar, die aus einer beschreibbaren Vorkriegswelt entstanden ist und deren Spuren und Implikationen bis heute selbst im unmittelbaren Lernumfeld der Schüler sichtbar sind.
Daraus entsteht als drittes Lernziel der Versuch, die Vergangenheit mit der Gegenwart in Verbindung zu setzen und die Schüler für ihre je eigene Handlungskompetenz zu sensibilisieren, ohne historisch unglückliche Parallelisierungen vorzunehmen. Eine von Empathie getragene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kann den Lernenden dabei helfen, Geschichte in ihrer Relevanz für heute statt als Komplex historisch determinierter Entladung von Gewaltausübung und Erleiden von Gewalt vielmehr als das Ergebnis menschlicher Interaktionsweisen zu verstehen.
Der Verzicht auf eine Thematisierung des eigentlich genozidalen Grundvorgangs – des massenhaften Ermordens von Menschen – scheint bei einer Beschränkung auf diese Lernziele nicht nur vertretbar, sondern Grundvoraussetzung dafür zu sein, dass ein empathischer
Lernvorgang überhaupt in Gang gesetzt werden kann. Dabei geht es nicht um die künstliche Herstellung einer „Lightversion“ des Holocaust, sondern um das bewusste Aussparen von Lerninhalten mit traumatisierendem Potential, ohne jedoch auf eine klare und eindringliche
Beschreibung der Verluste, die Menschen zugefügt wurden, zu verzichten.
Hierin scheint eine der diffizilsten Anforderungen an Pädagogen sowie Lehrbuchautoren zu liegen. Dazu zwei Beispiele aus Israel bzw. Deutschland: In dem 2009 von der erfolgreichen israelischen Kinderbuchautorin Alona Frankel vorgelegten Büchlein „Lama leNaftali korim Naftali“ (Warum Naftali Naftali heißt) ist es gerade der überwiegende Verzicht auf eine Einbettung des Geschehens in immanente historische Zusammenhänge, was den Text so problematisch erscheinen lässt. Der ausschließlich ins Kontinuum der eigenen Familiengeschichte eingehängte plot der Geschichte, die eine israelische Mutter ihrem Kleinkind erzählt, spannt zwar den geschichtlichen Bogen zurück bis zu der Verfolgungsgeschichte des Urgroßvaters Naftali, nach dem das Kind benannt ist. Die historischen Abläufe werden jedoch weitgehend verschleiert durch ahistorische Begriffe wie „in einem fernen Land“, „böse und starke Leute“, „vor vielen Jahren“ etc.
An einer Stelle werden diese – pädagogisch und fachlich nicht zu vertreten – durch die Illustration des Buches sogar verkehrt, indem die Flagge der Bundesrepublik Deutschland den bildlichen Hintergrund zu den „bösen und starken Leuten“ bildet. Jegliche sinnvolle Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart wird zudem durch das Versprechen der Mutter an das Kind unterbunden, dass „niemals wieder böse Menschen die Welt beherrschen werden!“ Dieses unhaltbare Versprechen macht im Grunde jede weitere Beschäftigung mit dem Thema obsolet und zeigt, wie der verständliche Wunsch der Pädagogen, die jungen Lernenden emotional nicht zu überfordern, ins Unglaubhafte umschlagen kann, wenn er geschichtsdidaktisch falsch umgesetzt wird.
Ein überzeugendes Beispiel hingegen bietet die jüngste Publikation des Anne-Frank-Zentrums in Berlin, in der gezielt der Grundschulsektor angesprochen wird. Die Materialsammlung „Nicht in die Schultüte gelegt. Schicksale jüdischer Kinder 1933-1942 in Berlin“11 bietet vielfältiges historisches Material, mit dem jüdisches Kinderleben, lokal angebunden an die Stadt Berlin, in seinen Dimensionen vor und während der Verfolgungsgeschichte erfahrbar wird. Durch sensibel ausgearbeitete Arbeitsvorschläge und Denkanstöße gelingt es, die Relevanz der Vergangenheit für das Leben der Schüler heute aufzudecken, so dass tatsächlich entstehen kann, was der fachdidaktische Untertitel verspricht: „Menschenrechtsbildung durch historisches Lernen“. Dass die eigentliche Durchführung des Genozids in dieser Materialsammlung nicht fokussiert wird, macht sie für Grundschulkinder zugänglich, ohne gleichzeitig die Dimensionen des Verlusts zu entschärfen.
3. Erste Auseinandersetzung mit historiographischen Grundlagen
Narrationstexte, die aus der Perspektive eines Überlebenden in der 1. Person erzählt werden, bieten die Chance, gemeinsam mit den Schülern auf altersgerechte Weise Grundfragen der Historiographie zu reflektieren. Voraussetzung hierfür ist, dass den Lernenden ausreichend
anschauliches Material angeboten wird, das die Erzählsituation des Textes klar verdeutlicht. Photographien, die die Ich-Figur in verschiedenen Stadien der erzählten Zeit und der Erzählzeit abbilden, können helfen, die Erzählsituation transparent zu machen: Wer erzählt? Wann? Aus welcher Perspektive?12 Damit erhalten die Schüler ein Instrumentarium, um mit Brüchen, Lücken und Ungereimtheiten im Text umgehen zu können. Sie können sich fragen, warum die Ich-Figur ihre Geschichte so und nicht anders erzählt, und beginnen zu verstehen, wie Erinnerungstexte konstruiert werden. Dabei geht es nicht darum, Zweifel am Wahrheitsgehalt authentischer Texte zu streuen, sondern darum, in der empathischen Auseinandersetzung mit dem subjektiven Erinnerungstext eines Überlebenden erste Einblicke in den Konstruktionscharakter von Geschichtserzählung zu gewinnen.
Zusammenfassend ließe sich sagen, dass bei sorgfältiger Materialwahl und bei den Lernenden gegenüber gewährter Autonomie das Lernen über den Holocaust mit jüngeren Schülern nicht nur möglich ist, sondern eine Vielzahl von Zugangschancen eröffnet, die für den weiteren Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Thema prägend sein kann. Eine größere Vielfalt von konzeptionell durchdachten Unterrichtsmaterialien auf dem deutschsprachigen Sektor wäre wünschenswert.
Angaben zur Autorin
Studium der Germanistik und Musik in München; Promotion an der Universität Potsdam über die Kreativität von Kindern und Jugendlichen während der Shoah; seit 2006 Leiterin des Desks für die Deutschsprachigen Länder an der International School for Holocaust Studies, Yad Vashem, Durchführung und Entwicklung pädagogischer Fortbildungsseminare (für Pädagogen aus Israel, Europa und Übersee) und Erstellung mehrsprachiger Unterrichtsmaterialien für verschiedene Altersstufen.
Zitiervorschlag
Noa Mkayton: Holocaustunterricht mit Kindern – Überlegungen zu einer frühen Erstbegegnung mit dem Thema Holocaust im Grundschul- und Unterstufenunterricht, in: Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 5. Jg., 2011, Nr. 9, S. 1-9.