In den pädagogischen Handreichungen, die auf der Basis von ausgewähltem Material der gleichnamigen Ausstellung zusammengestellt wurden, geht es um das Leben von jüdischen Kindern während der Shoah. Dabei werden verschiedene Themenschwerpunkte genauer beleuchtet: Das Leben von Kindern in der Vorkriegszeit, im Ghetto, in Lagern und in der Nachkriegszeit.
Zielgruppe: ab 10 Jahre
- Einleitung
- Kinder in der Vorkriegszeit
- Kinder im Schatten des Krieges – Am Beispiel des Schiffs St. Louis
- Kinder in Ghettos und Lagern
- Kinder in Lagern
- Kinder nach dem Krieg
Grundgedanken
Das Schicksal von Kindern während des Holocaust ist eines der schwierigsten Kapitel dieser Zeit. Ungefähr anderthalb Millionen jüdische Kinder sind im Holocaust in Ghettos, Lagern oder im Versteck umgekommen. Kinder waren unter den ersten die ermordert wurden, da sie für das Deutsche Reich nicht „von Nutzen” waren, da sie keine Zwangsarbeit leisten konnten, und da sie darüber hinaus die Zukunft für die jüdische Nation darstellten, die in ihrer Gesamtheit zerstört werden sollte.
Der Zweite Weltkrieg zerstörte die Kindheit jüdischer Kinder und die neue Realität zeichnete sich durch Mangel aus – Mangel an Sicherheit, Nahrung, familiären Beziehungen, Liebe und Zuneigung. Kinder mussten sich an diese Realität anpassen und versuchten ihre neue Situation oft im Spiel zu verarbeiten.
Die Unterrichtseinheiten ermöglichen es den Schülerinnen und Schülern, das Thema des Holocausts mit Hilfe der Austellung Kein Kinderspiel durch die Augen von Kindern zu sehen. Es werden individuelle Geschichten behandelt, um gerade jüngeren Schülerinnen und Schülern das Thema nahe zu bringen und Diskussionen über die Wichtigkeit von persönlichen Gegenständen, der Familie, dem Zuhause und der Freundschaft aber auch der Kreativität und dem Spiel anzuregen.
Ausgangsfragen
- Welche Rolle spielten Spielzeuge für Kinder vor, während und nach dem Holocaust? Inwiefern verändert sich diese Rolle?
- Was verstanden Kinder vom Krieg und wie reagierten sie darauf?
- Wie wuchsen sie unter Nazi-Kontrolle auf? Wie passten sie sich an die neuen Umstände an? Was wird in ihren Augen „normal“?
- Was spielten Kinder und was spielten sie nicht? Wo sind die Grenzen im Spiel?
Anmerkungen an die Lehrenden
- Spielzeuge boten Kindern in Zeiten, in denen sie sich manchmal vollkommen selbst überlassen waren Trost und Gesellschaft.
- Während des Krieges waren sie teilweise die einzigen Besitztümer oder Erinnerungen an verlorene Zeiten und vollständige Familien, die den Kindern blieben.
- Sie halfen den Kindern dabei, ihre Kindheit und Identität zu bewahren.
- Sie stellten einen Rückzugsraum für die Kinder in eine andere Wirklichkeit dar und boten ihnen die Möglichkeit, die schreckliche und traurige Realität während des Holocaust für eine Weile zu vergessen.
- Die Phantasie und Kreativität die Kinder im Spiel ausleben konnten, waren manchmal die Vorraussetzung für das Überleben in einem solchen Kontext.
- Spielsituationen waren meist die einzigen Situationen, in denen Kinder die Kontrolle in Bezug auf Ereignisse hatten.
Inhalt
- Grundgedanken
- Historischer Hintergrund
- Photographien und Zeitzeugenberichte
- Arbeitsvorschläge für Lerngruppen
Grundgedanken
Das Leben von Kindern vor dem Holocaust soll hier behandelt werden. Dadurch soll die Vielfalt der Welt jüdischer Kinder in Europa vor dem Holocaust anschaulich gemacht werden sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich mit heutigen Lernenden verdeutlicht werden. Im Zentrum soll dabei die Frage nach der Rolle von Spielen und Spielzeugen für Kinder stehen, denn alle Kinder spielen, egal welcher Religion oder Nationalität sie angehören.
Historischer Hintergrund
Die Welt jüdischer Kinder in Europa vor dem Holocaust war von einer Vielfältigkeit. Jedes Kind und seine Familie, jedes Kind innerhalb seines engeren Lebensumfelds, jedes Kind innerhalb der kulturellen Umgebung, in der es aufwächst, bildet eine eigene Welt. Da waren diejenigen, die im „Cheder" lernten und in einem tief religiösen Umfeld groß wurden. Andere lernten in staatlichen Schulen und lebten ein völlig säkulares Leben. Zwischen diesen Extremen gab es die unterschiedlichsten Facetten religiöser Überzeugungen und Lebensformen. Viele der Spiele, die die Kinder spielten, und viele Bücher, die sie lasen, sind auch heute noch Bestandteil der soziokulturellen Umgebung unserer Kinder: Straßen- und Ballspiele, Spielzeug, Brettspiele wie Monopoly und Schach, Bücher wie Der Glöckner von Notre Dame und Anne auf Green Gables, Charaktere aus Walt- Disney-Filmen wie Micky Mouse oder Schneewittchen und die sieben Zwerge.
Photographien und Zeitzeugenberichte
„Wir waren sechs Tage die Woche in der Schule und bekamen entsetzlich viele Hausaufgaben auf. Wir waren Mitglieder in einer Jugendgruppe, und so liefen wir im Winter Schlittschuh und spielten im Sommer Tennis. Ich turnte und lief gerne.“
1
Dora Eiger Zaidenweber
„Ich ging in Cluj zur Schule und mochte die Schule nicht besonders gerne, sondern liebte es bereits als Kind, etwas mit meinen Händen zu machen, bastelte zum Beispiel Puppen. Als Jugendliche, nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte, wollte ich so gerne nach Italien in eine damals berühmte Puppenmanufaktur.”
2
Julie Weiss-Nicholson
„Das jüdische Leben in Wilna pulsierte und war aufregend. Meine Kindheit war typisch für ein jüdisches Kind in Wilna. Zuhause wurde ich vergöttert. Ich liebte die Schule. Ich liebte den Geschichtsunterricht und die Literaturstunden. Seit frühester Kindheit war das Theater meine Leidenschaft.”
3
Sima Skurkowitz
„Die Arbeit in der Schule ist beendet. Die Tage sind warm und sonnig. Wir wünschen uns so sehr, aus der Stadt rauszukommen. […] Unsere Schulkameraden träumen von grünen Wiesen und vom sorglosen Leben im Ferienlager. […] Gegen Abend kommen wir zurück in die laute Stadt, die vor Energie pulsiert. Noch niemals hat das Leben so viel Freude und Sorglosigkeit für uns bereitgehalten.”
4
Yitzkhok Rudashevski
„Eines der populärsten Spiele war damals Völkerball, das vor allem von den älteren Kindern mit großem Eifer gespielt wurde. Es ist eine Art Handball mit zwei Teams und komplizierten Regeln. Es war immer ein besonderer Tag für uns, wenn die älteren Jugendlichen uns erlaubten, mitzuspielen. […] Vor allem die Winter in Gerresheim waren eine wunderbare Zeit. […] Ich sah immer gerne dem ersten Schneefall zu: das waren große, graublaue Flocken, die sich lautlos auf Zweige, Zäune und Straßenlampen senkten. Und ich beobachtete das ganze von meinem sicheren Platz hinter der Fensterscheibe und fühlte mich geborgen. […] Dann brachen Schneeballschlachten auf der Straße aus und selbst Erwachsene ließen sich manchmal dazu hinreißen, mitzumachen.”
5
Hannele Zürndorfer
„Ich liebe es, in der einbrechenden Nacht stundenlang wach zu liegen und meinen Gedanken nachzuhängen. Das Leben birgt ein aufregendes Rätsel, einen süßen, geheimnisvollen Zauber. In meiner Vorstellung bin ich eine gefeierte Dichterin, schön, elegant und sehr begabt. Meine Gedichte öffnen mir das Herz der Welt und ich genieße das Gefühl, von der Welt umarmt zu werden.”
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Livia Bitton-Jackson
Arbeitsvorschläge für Lerngruppen
- Betrachtet die unterschiedlichen Photographien.
- Lest die Aufzeichnungen von Kindern in der Klasse oder in Kleingruppen.
- Beschreibt und analysiert die Fotos und Texte in Bezug auf Kindheit vor dem Holocaust.
- Arbeitet Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Lebenswelt von Kindern vor dem Holocaust und heutigen Lernenden heraus. Dazu könnt ihr Photographien aus euren eigenen Familie mitverwenden.
- Dora Eiger Zwaidenweber. In: Itzhak B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher. Jerusalem 2004, S. 19.
- Julie Weiss-Nicholson. In: Itzhak B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher. Jerusalem 2004, S. 20.
- Sima Skurkowitz. In: Itzhak B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher. Jerusalem 2004, S. 21.
- Yitzkhok Rudashevski. In: Itzhak B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher. Jerusalem 2004, S. 22.
- Hannele Zürndorfer. In: Itzhak B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher. Jerusalem 2004, S. 23.
- Livia Bitton-Jackson. In: Itzhak B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher. Jerusalem 2004, S. 31.
Am Beispiel der Geschichte des Schiffs St. Louis
Historischer Hintergrund
Nachdem die Nazis 1933 die Macht in Deutschland übernommen hatten, verschlimmerte sich die Situation der deutschen Jüdinnen und Juden von Tag zu Tag. Es wurden Gesetze verabschiedet, die alle Aspekte des täglichen Lebens betrafen und die jüdischen Bürger unter anderem aus der Wirtschaft und dem öffentlichen Bildungssystem verdrängen sollten. Die Gemeinden bemühten sich, ein eigenes Schulwesen aufzubauen. Immer mehr Jüdinnen und Juden versuchten, Deutschland zu verlassen. Wegen des generell anwachsenden Antisemitismus fanden sich jedoch nur wenige Länder, die bereit waren, sie aufzunehmen.
Viele Eltern trafen die Entscheidung, sich von ihren Kindern zu trennen und sie fortzuschicken, um damit ihre Zukunft zu sichern. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 gelang es der Jugendaliya, 5.000 Kinder nach Palästina bringen. Weitere 9.000 fanden nach dem Novemberpogrom 1938 in Großbritannien Zuflucht. Für tausende andere Kinder sollte die Suche nach Asyl jedoch erfolglos bleiben. Die meisten Kinder, die auswandern konnten, sahen ihre Eltern nie wieder.
Eine beeindruckende Geschichte zum Thema der Vorkriegszeit und dem Leben im Schatten des Krieges ist die Geschichte des Schiffs St. Louis. Das Schiff verließ am 13. Mai 1939 Hamburg in Richtung Kuba. An Bord waren 936 Flüchtlinge, die meisten davon Jüdinnen und Juden, die versuchten auf diesem Wege aus Deutschland zu flüchten.
In Kuba angekommen wurde dem Schiff die Einreise verweigert. Nach vielen nicht erfolgreichen Interventionsversuchen, unter anderem durch den Kapitän Gustav Schröder, musste das Schiff den Hafen von Havanna am 6. Juni 1939 w„In der Bucht von Havanna lag die St. Louis in glühender Hitze. Eine merkwürdige Stille hing über dem Schiff. Der Salon, wo die Gottesdienste abgehalten wurden, war immer überfüllt mit Leuten. Die Unruhe der Passagiere stieg bis zum Unerträglichen. Kapitän Schröder befürchtete eine Katastrophe. Am Morgen des 30. Mai bekam Kapitän Schröder die ersten Briefe aus Havanna, alle von Familien der Passagiere, und alle hatten den gleichen Inhalt. Die Passagiere befanden sich also in einem sehr gespannten Zustand, und viele dachten daran, Selbstmord zu begehen.(...)“[9]
ieder verlassen und zurück nach Europa fahren. Auf dem Weg zurück versucht der Kapitän eine Anlegeerlaubnis in den USA zu bekommen und erreicht am Ende, dass die Passagiere am 17. Juni von Antwerpen aus auf einige westeuropäische Staaten verteilt wurden (nach Großbritannien 288, in die Niederlande 181, nach Belgien 214 und nach Frankreich 224 Passagiere). Über die St. Louis haben viele Medien berichtet. Nach den Besetzungen Belgiens, der Niederlande und Frankreichs durch Truppen der Wehrmacht ab 1940 gerieten viele der ehemaligen Passagiere in den Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten und wurden erneut verfolgt und später oftmals deportiert und ermordet.
Mehr Informationen zu diesem Thema können Sie im United States Holocaust Memorial Museum finden. Gustav Schröder wurde posthum in Yad Vashem als Gerechter unter den Völkern für seinen Einsatz während der Fahrt ausgezeichnet. Als Gerechte unter den Völkern werden in Yad Vashem Menschen ausgezeichnet, die während der Shoah versucht haben Jüdinnen und Juden zu retten.
Hier können Sie mehr zu ihm lesen.
Im Folgenden können Sie am Beispiel eines Mädchens die Geschichte der St. Louis und ihrer Folgen lesen.
Das Beispiel von Hannelore Klein
Hannelore Klein wurde am 8. Juni 1927 in Berlin geboren und befand sich als Mädchen auf dem Schiff St. Louis. Nach der Rückkehr des Schiffs ging sie mit ihren Eltern in den Niederlanden von Bord. Dort lebte sie bis sie mit ihren Eltern nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht nach Westerbork und von dort in verschiedene Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden. Hannelore hat überlebt, hat jedoch einen Großteil ihrer Familie während der Shoah verloren. Heute lebt sie in den Niederlanden. Hannelore Klein hat für ihre Familie ihre Erinnerungen aufgeschrieben und Yad Vashem zur Verfügung gestellt.
In diesen Erinnerungen schreibt sie auch über die Fahrt auf der St. Louis und ihren Gedanken und Erfahrungen während dieser Zeit.
Im Folgenden finden Sie Textauszügen aus den Erinnerungen von Hannelore Klein, diese sind den Yad Vashem Unterrichtsmaterialien „Was geht mich die Geschichte an? Den Holocaust im 21. Jahrhundert unterrichten.“ entnommen
Die Textausschnitte von Hannelore Klein stammen aus Aufzeichnungen, die Hannelore Klein nach dem Krieg für ihre Familie aufgeschrieben hat. Darin unterscheiden sie sich von anderen Textsorten, wie Tagebüchern, die während der Shoah entstanden sind.
Nur auf Bitten von Yad Vashem hat sie ihre Erinnerungen zur Verfügung gestellt.
Reise an Bord der St. Louis
„Die St. Louis lag im Freihafen von Hamburg, schneeweiß gestrichen mit schwarz-weiß-roten Schornsteinen. Arbeiter schleppten Kisten mit Proviant und ein großer Hebekran hob die Containerkisten in die Gepäckräume – die sogenannten Judenkisten. Wir mussten an Tischen entlang zur Pass- und Zollkontrolle gehen. Niemand sprach ein Wort. Es dauerte den ganzen Nachmittag, bis die Passagiere, 930 jüdische Männer, Frauen und Kinder, an Bord gegangen waren. Zuerst bekamen wir Kaffee und Kuchen, danach Abendessen. Um 20 Uhr legte die St. Louis ab, und das Bord-Orchester spielte ‚Muss I denn, muss I denn zum Städtele hinaus...‘. Der Kapitän Gustav Schröder war einer der verlässlichsten Männer der ganzen Reederei, was während der gesamten Reise zu spüren war. Er hatte der Mannschaft befohlen, die jüdischen Passagiere als Ausländer
7 zu behandeln.
(...) Das Wetter war unwahrscheinlich schön. Es wurden Konzerte, Bockbierfeste und Kostümbälle gegeben. Die Reise mit dem freundlichen Kapitän und seiner Mannschaft, die versuchten, es den 930 Juden so angenehm wie möglich zu machen, war wie eine lang vergessene Ferienfahrt.“8
Nach der Nachricht, dass die Passagiere der St. Louis keine Einreisegenehmigung nach Kuba erhielten, war von der Urlaubsstimmung auf der St. Louis nichts mehr zu spüren.
„In der Bucht von Havanna lag die St. Louis in glühender Hitze. Eine merkwürdige Stille hing über dem Schiff. Der Salon, wo die Gottesdienste abgehalten wurden, war immer überfüllt mit Leuten. Die Unruhe der Passagiere stieg bis zum Unerträglichen. Kapitän Schröder befürchtete eine Katastrophe. Am Morgen des 30. Mai bekam Kapitän Schröder die ersten Briefe aus Havanna, alle von Familien der Passagiere, und alle hatten den gleichen Inhalt. Die Passagiere befanden sich also in einem sehr gespannten Zustand, und viele dachten daran, Selbstmord zu begehen.(...)“
9
Nach langwierigen Verhandlungen musste die St. Louis ablegen und nahm Kurs zurück nach Europa.
„Die Vorräte des Schiffes gingen zu Ende. Es war wie ein Traum, dass vor einer Woche das Schiff noch in glühender Hitze vor der Bucht von Havanna gelegen hatte – mit der Hoffnung auf Landung. An uns Kindern ist all das vorbei geglitten, wir waren beschäftigt in unserer eigenen Phantasie- und Spielwelt. Wir rannten zum Beispiel auf allen Decks herum, guckten kleine Babies an oder spielten Versteck.“
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Verzweifelter Plan des Kapitäns Schröder: Schiffshavarie vor der Küste Englands
„An Bord der St. Louis wird nicht mehr getanzt. Das Orchester spielt vor leeren Stühlen, das Kino ist unbesucht. Das Schiff pendelt ziellos zwischen Florida und Kuba. Was an Gerüchten und Wahrheiten kursiert, nehmen die wenigsten noch ernst: vielleicht die Pinieninsel vor Kuba, vielleicht die Dominikanische Republik, vielleicht doch die USA.
Schließlich ist es aus. ‚Sofort nach Hamburg‘, kabelt die Hapag an Schröder. (...) Als Schröder so weit ist, das Schiff an der britischen Küste havarieren zu lassen, um eine Landung zu erzwingen, erklären sich einige Regierungen bereit, die Flüchtlinge aufzunehmen. 287 nimmt Großbritannien, 224 Frankreich, 181 Holland und 214 Belgien. Nach mehr als einem Monat auf See erreicht die St. Louis den Hafen von Antwerpen.“11
Zurück in Europa
Hannelore und ihre Eltern gingen in Antwerpen von Bord und sollten in Holland Aufnahme finden.
„Die für Holland bestimmten Passagiere verließen am Morgen den 18. Juni die St. Louis. Ein Touristenschiff brachte uns nach Rotterdam. Diese Fahrt dauerte etwa 9 Stunden. Jeder von uns hatte ein Körbchen mit einem koscheren Picknick bekommen. Für uns Kinder war diese Fahrt wie ein Ausflug. Unser Ziel war das Quarantänelager Hayplaat in Rotterdam. Wir verschwanden hinter dem Stacheldraht von Hayplaat mit den orangen Blümchen, die uns an die Jacke gesteckt worden waren – eine Einladung von Königin Wilhelmina [die holländische Königin]. Wir wussten nicht, dass wir unsere Freiheit für die kommenden sechs Jahre verloren hatten, und dass die meisten von uns, auch meine Eltern, niemals wieder Freiheit erleben würden.“
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Arbeitsvorschläge für Lerngruppen
- Welche Informationen lassen sich zu Gustav Schröder finden? Warum wurde er als Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet?
- Welche Eindrücke gewinnt man durch Hannelore Klein von der Fahrt nach Havanna?
- Wie gehen die Kinder mit der Realität an Bord um?
- Wie beschreibt Hannelore die Stimmung auf dem Schiff, nachdem klar wurde, dass die Passagiere in Havana nicht von Bord gehen können?
- Was passierte mit der Familie Klein, nachdem sie in Antwerpen von Bord gingen?
- Mit seiner Anweisung, die jüdischen Passagiere „als Ausländer“ zu behandeln, wollte Kapitän Schröder erreichen, dass seine Mannschaft sie als Emigranten mit ausländischer Staatsbürgerschaft respektierte, anstatt sie als gedemütigte Flüchtlinge zu betrachten.
- Aus den Erinnerungen von Hannelore Klein (Geschichtsalbum St. Louis). In: Tobias Ebbrecht / Deborah Hartmann / Noa Mkayton: Was geht mich die Geschichte an? Den Holocaust im 21. Jahrhundert unterrichten. Jerusalem 2012, ohne Seitenangabe.
- Aus den Erinnerungen von Hannelore Klein (Geschichtsalbum St. Louis). In: Tobias Ebbrecht / Deborah Hartmann / Noa Mkayton: Was geht mich die Geschichte an? Den Holocaust im 21. Jahrhundert unterrichten. Jerusalem 2012, ohne Seitenangabe.
- Aus den Erinnerungen von Hannelore Klein (Geschichtsalbum St. Louis). In: Tobias Ebbrecht / Deborah Hartmann / Noa Mkayton: Was geht mich die Geschichte an? Den Holocaust im 21. Jahrhundert unterrichten. Jerusalem 2012, ohne Seitenangabe.
- Dimitri Ladischensky: Kreuzfahrt in den Tod (Zugriff am 12.08.2012).
- Aus den Erinnerungen von Hannelore Klein (Geschichtsalbum St. Louis). In: Tobias Ebbrecht / Deborah Hartmann / Noa Mkayton: Was geht mich die Geschichte an? Den Holocaust im 21. Jahrhundert unterrichten. Jerusalem 2012, ohne Seitenangabe.
Kinder in Ghettos
- Historischer Hintergrund
- Kinderspiele in Ghettos
- Flucht vor der Realität – Am Beispiel Uri Orlevs „Das Sandspiel“
- Das Spielzeug als Bezugsperson – Am Beispiel der Puppe Zuzia
- Das Spielzeug als Gefährtin gegen die Einsamkeit – Am Beispiel der Puppe Gertá
- Kindererziehung während der Shoah
- Ein Buch zur Erinnerung – Am Beispiel Bedrich Frittas: „Tommy“
- Das Spielzeug als Informationsquelle – Am Beispiel des Monopoly-Spiels in Theresienstadt
Kinder in Lagern
- Historischer Hintergrund
- Kinderspiele in Lagern
- Arbeitsvorschläge für Lerngruppen
Historischer Hintergrund
Nach Kriegsende suchten hunderttausende Überlebende, darunter tausende verwaiste Kinder, in den Ruinen Europas nach einem Weg, ihr Leben neu aufzubauen. Einige versuchten, nach Hause zurückzukehren, doch die meisten verwarfen diese Möglichkeit, da sie die Einzigen ihrer Familien waren, die am Leben geblieben waren. Die Alliierten errichteten in Deutschland, Österreich und Italien Lager für die sogenannten „Displaced Persons“, d.h. für Flüchtlinge, die keinen festen Wohnsitz mehr hatten. Ganz langsam kehrten die Überlebenden dort zum Leben zurück. Viele heirateten, und bekamen Kinder. In den Lagern wurden große Anstrengungen unternommen, um das Wohlergehen der Kinder zu gewährleisten: Man richtete Waisenhäuser und ein Suchsystem für Familienangehörige ein, ebenso wurde regelmäßiger Schulunterricht rganisiert. Von den etwa 250.000 Jüdinnen und Juden, die in DP-Lagern untergebracht waren, wanderten 160.000 – darunter einige tausend Kinder – nach Israel aus
Kinder beschreiben das Leben nach der Shoah
„In den Kriegsjahren verlor ich alles, was Kinder gewöhnlich haben. Ich verlor meine Eltern, meine Familie, mein Zuhause, meine Freunde, eine sorglose Kindheit und Schulzeit. Ich musste vergessen, dass ich eigentlich noch ein Kind war und eine Schulbildung brauchte. Ich musste arbeiten gehen und das Leben vergessen. Die Deutschen schlugen mich. Wie oft sah ich mich dem Pistolenlauf eines Gestapomannes gegenüber, wie oft habe ich gelitten und war sicher, dass ich wie meine Familie und Freunde in einem KZ verbrannt werden würde. Dann war der Krieg endlich zu Ende, und ich wurde von der russischen Armee befreit. Anschließend lebte ich in einem DP-Lager in Deutschland und träumte davon, frei zu sein und in den USA oder Israel zu leben. Eines Tages entschied ich mich, selbst etwas für meine Zukunft zu tun. Ich schrieb einen Brief an einen Onkel von mir, der in Wilmington lebte und bat ihn um Hilfe. Und tatsächlich, er half mir und schickte mir einen Affidavit. Sein Sohn war Capitain der Luftwaffe der Vereinigten Staaten und gerade in Deutschland stationiert. Er kam in das DP-Lager, in dem ich war, nahm mich mit, und dann lebte ich ein Jahr lang bei ihm und seiner Frau.
Lange Zeit wartete ich darauf, endlich meinen Fuß auf den Boden eines freien Landes zu setzen, eines Landes, wo es egal ist, welcher Rasse oder Religion man angehört, wo jeder Mensch frei und glücklich ist; einem Land, wo alle Kinder in die Schule gehen und ein sorgenfreies, fröhliches Leben führen. Ich musste lange warten, aber endlich wurde mein Traum Wirklichkeit. Am 17. November 1947 erhielt ich meinen Pass und reiste unter der Obhut des Komitees für Europäische Kinder mit der „Ernie Pile“ aus Bremerhaven ab.“13
Dorothy Finger
„Am 15. Mai 1948 versammelten wir uns im jüdischen Gemeindehaus von Prag und hörten in einer Radioübertragung die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel. Begeistert sahen wir einen Film über den jungen Staat in einem uralten Land. Viele Menschen in Prag nahmen an einer Feier zu diesem Anlass teil und dort traf ich auch Peter wieder, unseren Gruppenältesten aus Theresienstadt. […] Als ich am nächsten Tag aus dem Krankenhaus kam erwartete mich ein Gast – Peter. Er lud mich zu einem Kinobesuch ein. Von da an trafen wir uns fast täglich. Wir hatten uns verliebt, und bald beschlossen wir, zusammen nach Israel auszuwandern, um dort ein neues Leben – unser Leben – zu beginnen.”
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Eva Erben
Arbeitsvorschläge für Lerngruppen
- Wie beschreiben die Kinder die neue Situation nach der Befreiung und dem Ende des Krieges?
- Wie gehen sie damit um?
- Welche Träume und Wünsche haben sie?
- Dorothy Finger. In: Itzhak B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher. Jerusalem 2004, S. 163.
- Eva Erben. In: Itzhak B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher. Jerusalem
Dora Eiger Zaidenweber, geb. 1924 in Radom, Polen. 1941 wurde Dora und ihre Familie gezwungen, ins Ghetto umzusiedeln. Im Juli 1944 wurde sie nach Auschwitz deportiert und nach der Evakuierung auf einen Todesmarsch nach Bergen-Belsen gezwungen, wo sie am 15. April 1945 befreit wurde.
Julie Weiss-Nicholson, geb. 1923, Rumänien. 1944 wurde sie in Budapest auf offener Straße verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Als Zwangsarbeiterin wurde sie nach Bergen-Belsen, ins Volkswagen-Wek Fallersleben und dann in das KZ Salzwedel verschleppt. Julia, ihre Mutter und ihr Bruder überlebten, ihr Vater starb kurz vor der Befreiung. Julia wanderte mit ihrem ersten Mann über Deutschland nach Australien aus.
Itzhak. B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher, Yad Vashem Jerusalem 2004, S. 179.
Sima Skurkowitz, Geburtsdatum unbekannt, Litauen. Sie überlebte. Weitere Details über sie sind nicht bekannt.
Itzhak. B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher, Yad Vashem Jerusalem 2004, S. 179.
Yitzkhok Rudashevski, geb. 1927 in Wilna, Litauen. Im Oktober 1943 wurden er und seine Eltern im Wald von Ponary ermordet. Sein Tagebuch, das er auf Jiddisch verfasste, fand ein Cousin nach dem Krieg in dem Versteck, in dem die Familie seit September 1943 versucht hatte, dem Holocaust zu entkommen. Der Cousin hatte sich den Partisanen angeschlossen.
Itzhak. B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher, Yad Vashem Jerusalem 2004, S. 177.
Hannele Zürndorfer, geb. 1925, in Düsseldorf, Deutschland. Sie verließ Deutschland gemeinsam mit ihrer Schwester im Mai 1939 mit einem Kindertransport. Ihre Eltern und alle anderen Verwandten wurden im Holocaust ermordet.
Itzhak. B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher, Yad Vashem Jerusalem 2004, S. 180.
Livia Bitton-Jackson, geb. 1931, Ungarn. Sie wurde im Alter von 13 Jahren nach Auschwitz deportiert. Sie, ihr Bruder und ihre Mutter überlebten und ließen sich 1951 in den USA nieder.
Dorothy Finger wurde 1929 in Polen geboren. Ihre Familie wurde in der Ukraine ermordet. Dorothy Finger schlug sich alleine durch und irrte von Ort zu Ort, bis sie von der Roten Armee befreit wurde. Sie gelangte in ein DP-Lager in Deutschland, von wo sie später in die USA auswanderte.
Itzhak B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher, Jerusalem 2004, S. 172
Eva Erben ist 1930 in Decin in der damaligen Tschechoslowakei geboren. Sie lebte mit ihrer Familie seit 1936 in Prag. Im Dezember 1941 wurden sie gemeinsam nach Theresienstadt deportiert, später weiter nach Auschwitz. Die Mutter starb kurz vor der Befreiung während eines Todesmarschs. Eva floh nach dem Tod der Mutter und wurde die letzten Wochen vor der Befreiung bei nichtjüdischen tschechischen Bauern versteckt, die das bewusstlose Mädchen auf offenem Felde gefunden hatten. Nach dem Krieg kehrte Eva Erben nach Prag zurück, ließ sich zur Krankenschwester ausbilden und wanderte 1949 nach Israel ein.
Itzhak B. Tatelbaum: Durch unsere Augen gesehen. Der Holocaust in den Worten jüdischer Kinder und Jugendlicher, Jerusalem 2004, S. 172.