Das Projekt Witnesses and Education
Der Film Dir in Liebe Gedenken – Die Geschichte des Ovadia Baruch ist Teil der Filmreihe Witnesses and Education von Yad Vashem. In diesem Projekt erzählen jüdische Shoah-Überlebende ihre Geschichte an den Orten, an denen sie sich ereignete. Begleitet werden sie dabei von Mitarbeitern Yad Vashems. Die Filme sind anhand von Yad Vashems pädagogischen Prinzipien.
konzipiert; die individuellen Geschichten der Überlebenden sind jeweils in ihren historischen Kontext eingebettet. Einen Hintergrundtext zum Thema Zeugenschaft finden Sie hier.
Zielgruppe: Schüler*innen ab 15 Jahren
Zeitaufwand: Zwei bis vier Doppelstunden
Materialien: Film Dir in Liebe Gedenken – Die Geschichte des Ovadia Baruch (47 min, Hebräisch mit deutschen Untertiteln), Internetzugang, Aufgabenblatt
Über den Film: Ovadia Baruchs Geschichte zeugt von der Lebendigkeit und Diversität jüdischen Lebens im Thessaloniki der Vorkriegszeit ebenso wie von Verlust und Zerstörung, die die deutschen Besatzer über das jüdische Thessaloniki brachten. Von den 55.200 jüdischen Einwohner*innen Thessalonikis überlebten nur 4% die Shoah. Schüler*innen gewinnen damit einen Einblick in eine Welt, die heute nicht mehr existiert. Ovadia berichtet über den irreversiblen Bruch in seinem Leben, über die Zerstörung seiner Heimat und den Verlust seiner gesamten Familie. Auf der anderen Seite erzählt der Film aber auch von Widerstand und Solidarität im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau sowie von der Bedeutung der Liebe zwischen Ovadia und seiner zukünftigen Frau Alisa an diesem Ort. Die Zukunft, die sich das Paar in Israel aufgebaut hat, bezeugt die Kontinuität jüdischen Lebens nach der Shoah, ohne jemals die Dimension des Verlusts zu überdecken.
Aufgaben: Die erste Aufgabe sollte in jedem Fall am Anfang der Unterrichtseinheit stehen, um sicherzustellen, dass die Schüler*innen den gesamten Film kennen, ehe sie sich mit Detailfragen auseinandersetzen. Die Aufgaben 2-6 können nach Interesse gewählt werden, sie bedürfen keiner bestimmten Reihenfolge. Beendet werden sollte diese Einheit wiederum mit der letzten Aufgabe, die die Schüler*innen zur Selbstreflexion einlädt und sie damit nach der Beschäftigung mit Ovadias Geschichte wieder zurück ins „Hier und Jetzt“ begleitet.
1. Erste Filmsichtung, Überblick
A. Sehen Sie sich den gesamten Film an. Machen Sie während der Sichtung Notizen zu Filmszenen, über die Sie gerne sprechen möchten. Teilen Sie Ihre ersten Eindrücke mit Ihren Mitschüler*innen.
B. Fassen Sie Ovadias Geschichte in eigenen Worten zusammen.
Hinweise für die Lehrperson: Um den Film als geschlossene Einheit zu begreifen, ist es erforderlich, ihn einmal im Ganzen anzuschauen. Während der Sichtung machen die Schüler*innen Stichworte, die zunächst ihre ersten Eindrücke wiederspiegeln. Planen Sie etwas Zeit nach der Filmsichtung ein, damit die Schüler*innen ihre Aufzeichnungen beenden können. Im Anschluss empfiehlt sich eine erste Runde in Kleingruppen, in denen die Schüler*innen sich miteinander austauschen.
In einem moderierten Klassengespräch können danach erste Fragen und Eindrücke besprochen werden. Die Zusammenfassung (optional als Hausaufgabe) hilft, das Gesehene zu verfestigen und ermöglicht den Schüler*innen, sich auf die ihnen wichtig erscheinenden Aspekte zu konzentrieren.
2. Filmmaterial und visuelle Effekte
A. Sehen Sie sich den Ausschnitt 10:02-11:20 (Historisches Filmmaterial) an. Historisches Filmmaterial wird hier zu Ovadias Erzählung hinzugefügt. Analysieren Sie, auf welche Weise sich historisches Filmmaterial von Ovadias individueller Geschichte absetzt.
B. Diskutieren Sie die Funktion von Ovadias Erzählung: Welche Rolle spielt seine Darstellung, wenn seine Stimme dem historischen Material unterlegt wird?
Hinweise für die Lehrperson: In dieser Aufgabe reflektieren die Schüler*innen die medialen Aspekt des Films sowie die Besonderheiten von Zeugnissen als Quellengattung. Die Schüler*innen lernen, dass Schnitte, unterlegte Musik, Spezialeffekte, Montage etc. integrale Teile des Films sind. Außerdem hilft diese Aufgabe, zwischen subjektiven Zeugnissen und anderen Quellen (z.B. Fotografien oder Filme aus der Zeit des NS) zu unterscheiden: als subjektive Narration bieten uns Zeugnisse Einblick in die persönliche Erfahrung des Zeugen, dieser Einblick ließe sich durch andere Quellen nicht gewinnen. Allerdings bedarf diese Narration der historischen Kontextualisierung. Hier wird Ovadias Erzählung mit historischem Filmmaterial und Zwischentiteln, die den historischen Kontext erläutern, ergänzt. Ovadias Zeugnis wiederum dient der Beglaubigung dieser historischen Information: Er war dort und hat es selbst erlebt.
3. Orte
A. Sehen Sie sich die Ausschnitte 03:15-05:26 (Kindheit in Thessaloniki) und 11:38-14:46 (Deutsche Besatzung) an. Fassen Sie in eigenen Worten zusammen, wie jüdisches Leben in Thessaloniki in Ovadias Kindheit aussah. Beschreiben Sie, wie sich die Situation der Jüdinnen und Juden dort durch die deutsche Besatzung geändert hat.
B. Sehen Sie sich den Ausschnitt 05:26-07:08 (Jüdisches Museum) an. Das Bild des Rabbiners Haim Haviv ist im Jüdischen Museum von Thessaloniki ausgestellt. Ovadia hat diesen Rabbiner persönlich gekannt. Diskutieren Sie: Was ist die Funktion eines historischen Museums? Was bedeutet der Umstand, dass das Bild einer Person, die Ovadia persönlich gekannt hat, heute im Museum ausgestellt ist? Welche Rolle nimmt Ovadia zwischen dem Museum und dem Zuschauer ein?
C. Gehen Sie online. Gibt es in Thessaloniki ein Mahnmal, das an die Verbrechen der Shoah erinnert? Sammeln Sie Informationen darüber. Beschreiben Sie es. Bewerten Sie, inwiefern dieses Mahnmal geeignet ist, an das Schicksal der Jüdinnen und Juden Thessalonikis zu erinnern.
Hinweise für die Lehrperson: Schüler*innen verfügen nicht unbedingt über umfassendes Wissen über jüdisches Leben in der Vorkriegszeit im Allgemeinen, und noch weniger über das Alltagsleben, die Institutionen und sozialen Bewegungen sephardischer Juden in Thessaloniki (für weiterführende Information). Diese Aufgabe soll ein besseres Verständis dieser reichhaltigen Welt vermitteln, zudem aber auch die Dimension der Zerstörung und des Verlusts sichtbar machen, die die deutschen Besatzer über das jüdische Thessaloniki gebracht haben. In Aufgaben B und C beschäftigen sich die Schüler/innen mit der Erinnerungskultur an die nationalsozialistischen Verbrechen in Thessaloniki. Die Szene im Museum, in der Ovadia das Foto des Rabbiners aus seiner Kindheit betrachtet, verweist darauf, dass Ovadias Geschichte – die Geschichte der sephardischen Juden Thessalonikis – von den Nazis ausgelöscht und damit gewissenmaßen zum Museumsobjekt wurde. Noch gibt es durch Personen wie Ovadia eine lebendige Verbindung zu dieser Vergangenheit, jedoch ist diese Verbindung im Begriff, durchtrennt zu werden – das kommunikative Gedächtnis (durch einen personellen Zusammenhang gestützt) wandelt sich zum kulturellen Gedächtnis (durch Institutionen und Rituale gestützt). Schließlich werden die Schüler*innen aufgefordert, eine eigene Meinung zu den Möglichkeiten und Grenzen von Denkmälern zu artikulieren.
4. Entscheiden und Handeln während der Shoah
A. Sehen Sie sich den Ausschnitt 33:17-34:40 (Medizinische Experimente) an. Fertigen Sie eine Liste mit Personen an, die in diesem Ausschnitt erwähnt werden und setzen Sie diese Personen zueinander in Beziehung (z.B. in einer Mindmap).
B. Beschreiben Sie die Entscheidungen und Handlungen von Dr. Shmuel. Bewerten Sie das Risiko, das er auf sich genommen hat und diskutieren Sie alternative Entscheidungen, die er hätte treffen können.
C. Beschreiben Sie die Konsequenzen, die Dr. Shmuels Handlungen für ihn und für andere Personen hatten.
Hinweise für die Lehrperson: Unsere Vorstellung von der Shoah wird oft von den Bildern namenloser, gesichtsloser Opfer geprägt. Bilder, häufig im Kontext der Befreiung der Lager aufgenommen, zeigen die Ermordeten im Zustand völliger Entmenschlichung. Diese Aufnahmen haben sich durch die Medien in unserem Gedächtnis verankert. Sie vermitteln möglicherweise den Eindruck, die verfolgten Jüdinnen und Juden seien eine homogene, passive Masse gewesen. Für die Lernenden mag es dadurch nahezu unmöglich sein, das Individuum in dieser Masse zu erkennen.
Selbst unter den furchtbaren Bedingungen, die die Nazis für ihre Opfer geschaffen haben, und unter ständiger Lebensgefahr, waren die verfolgten Jüdinnen und Juden jedoch jeden Tag, jeden Augenblick gezwungen, Entscheidungen treffen und zu handeln. Eine Auseinandersetzung mit diesen Handlungen und Entscheidungen sowie mit dem genozidalen Kontext, in dem sie getroffen wurden, unterstützt die Lernenden darin, die verfolgten Juden als Individuen zu erkennen, anstatt sie auf den Status passiver Opfer zu reduzieren. Entscheidend ist hier, dass Handlungen und Entscheidungen jüdischer Verfolgter niemals mit denen ihrer Verfolger verglichen werden, da die Jüdinnen und Juden unter dramatisch eingeschränkten und oft völlig alternativlosen Bedingungen handeln mussten. Lawrence Langer bezeichnet diesen Handlungsraum als „choiceless choice“.
5. Zerstörung und Kontinuität
A. Sehen Sie sich den Ausschnitt 21:00-21:25 (Das Tor von Auschwitz) an und diskutieren Sie die Bedeutung, die das Durchschreiten des Tors von Auschwitz für Ovadia hatte.
B. Sehen Sie die Ausschnitte 26:42-27:42 (Jacob) und 30:59-31:27 (Alisa) an. Diskutieren Sie die Bedeutung dieser beiden Begegnungen für Ovadias Leben in Auschwitz.
Hinweise für die Lehrperson: Im ersten Ausschnitt erklärt Ovadia, was es für ihn bedeutete, durch das Tor von Auschwitz zu schreiten. Über die schrecklichen Bedingungen in Auschwitz hinaus wurden die Häftlinge ihrer Identität beraubt, ihre Namen wurden durch eine Nummer ersetzt. Dem Erleben von Liebe, Freundschaft und Solidarität kommt an diesem Ort damit eine besondere Bedeutung zu, sei es durch konkrete Hilfe oder sei es durch das Gefühl, noch zu dieser Welt zu gehören und jemanden zu haben, für den es sich lohnt, am Leben zu bleiben.
6. Das Leben nach 1945
A. Sehen Sie sich den Ausschnitt 41:40-41:55 (Emigration nach Israel) an. Es war oftmals nicht einfach für die überlebenden Jüdinnen und Juden Europas, nach dem Krieg in das damals britische Mandatsgebiet Palästina zu gelangen. Gehen Sie online. Finden Sie heraus, welche Hindernisse den Überlebenden entgegenstanden, wenn sie nach Palästina emigrieren wollten. Wann haben sich die Bedingungen geändert und wodurch?
B. Sehen Sie sich das Ende des Films 43:48-45:25 (Leben nach der Shoah) an. Diskutieren Sie, ob Sie das Ende als „Happy End“ bezeichnen würden. Begründen Sie Ihre Entscheidung.
Hinweise für die Lehrperson: Ovadia und Alisa haben sich bewusst dafür entschieden, ihre Zukunft in Israel aufzubauen. Dies geschah unter schwierigen Umständen, da die Einreise unter britischem Mandat starken Beschränkungen unterlag und zudem das Leben im damaligen Palästina mit vielen Entbehrungen einherging. Der Film endet mit dem Blick auf Ovadias Familie, durch die er sich selbst als Sieger über die Täter sieht, die jüdisches Leben komplett zerstören wollten. Obwohl der Film in diesem Sinne positiv endet, gibt er jedoch auch Auskunft über den drastischen Verlust, den Ovadia und Alisa erleiden mussten (Zerstörung der Heimat, Verlust der Familie, persönlich erlittenes Unrecht). So stehen dem positiven Ende des Films Ovadias traumatische Erfahrungen gegenüber, und der Film macht deutlich, dass sie für immer Teil seiner Identität bleiben werden.
7. Abschlussreflexion
A. Ovadia Baruch führte in Israel ein geselliges Leben. Gerne saß er in einem bestimmten Café und unterhielt sich dort mit anderen Menschen. Oft sprach er auch mit Kindern und Jugendlichen, die auf dem Weg zur Schule waren. Stellen Sie sich vor, Sie würden Ovadia in diesem Café begegnen: Worüber würden Sie gerne mit ihm sprechen?
B. Ovadia Baruch starb im Jahr 2010 in Jerusalem. Die Gelegenheiten, mit Überlebenden der Shoah zu sprechen, werden immer seltener, da viele von ihnen heute nicht mehr leben. Deswegen bemühen sich Yad Vashem und andere Einrichtungen, die Erinnerungen solcher Zeuginnen und Zeugen für spätere Generationen zu bewahren. Diskutieren Sie: Was können Filme mit Überlebenden der Shoah in Ihren Augen vermitteln und wo liegen ihre Grenzen?
Hinweise für die Lehrperson: Trotz Ovadias charismatischer und optimistischer Persönlichkeit enthält seine Geschichte, wie jede Erzählung über die Shoah, emotional belastende Aspekte. Wenn diese Gefühle und Eindrücke pädagogisch unbearbeitet bleiben, könnten sie zu einer Abwehr- oder Vermeidungshaltung führen. Es wird daher empfohlen, die Unterrichtseinheit mit einer Rückführung der Schüler*innen in ihre eigene Lebenswelt zu beenden.
1. Erste Filmsichtung, Überblick
A. Sehen Sie sich den gesamten Film an. Machen Sie während der Sichtung Notizen zu Filmszenen, über die Sie gerne sprechen möchten. Teilen Sie Ihre ersten Eindrücke mit Ihren Mitschüler*innen.
B. Fassen Sie Ovadias Geschichte in eigenen Worten zusammen.
2. Filmmaterial und visuelle Effekte
A. Sehen Sie sich den Ausschnitt 10:02-11:20 (Historisches Filmmaterial) an. Historisches Filmmaterial wird hier zu Ovadias Erzählung hinzugefügt. Analysieren Sie, auf welche Weise sich historisches Filmmaterial von Ovadias individueller Geschichte absetzt.
B. Diskutieren Sie die Funktion von Ovadias Erzählung: Welche Rolle spielt seine Darstellung, wenn seine Stimme dem historischen Material unterlegt wird?
3. Orte
A. Sehen Sie sich die Ausschnitte 03:15-05:26 (Kindheit in Thessaloniki) und 11:38-14:46 (Deutsche Besatzung) an. Fassen Sie in eigenen Worten zusammen, wie jüdisches Leben in Thessaloniki in Ovadias Kindheit aussah. Beschreiben Sie, wie sich die Situation der Jüdinnen und Juden dort durch die deutsche Besatzung geändert hat.
B. Sehen Sie sich den Ausschnitt 05:26-07:08 (Jüdisches Museum) an. Das Bild des Rabbiners Haim Haviv ist im Jüdischen Museum von Thessaloniki ausgestellt. Ovadia hat diesen Rabbiner persönlich gekannt. Diskutieren Sie: Was ist die Funktion eines historischen Museums? Was bedeutet der Umstand, dass das Bild einer Person, die Ovadia persönlich gekannt hat, heute im Museum ausgestellt ist? Welche Rolle nimmt Ovadia zwischen dem Museum und dem Zuschauer ein?
C. Gehen Sie online. Gibt es in Thessaloniki ein Mahnmal, das an die Verbrechen der Shoah erinnert? Sammeln Sie Informationen darüber. Beschreiben Sie es. Bewerten Sie, inwiefern dieses Mahnmal geeignet ist, an das Schicksal der Jüdinnen und Juden Thessalonikis zu erinnern.
4. Entscheiden und Handeln während der Shoah
A. Sehen Sie sich den Ausschnitt 33:17-34:40 (Medizinische Experimente) an. Fertigen Sie eine Liste mit Personen an, die in diesem Ausschnitt erwähnt werden und setzen Sie diese Personen zueinander in Beziehung (z.B. in einer Mindmap).
B. Beschreiben Sie die Entscheidungen und Handlungen von Dr. Shmuel. Bewerten Sie das Risiko, das er auf sich genommen hat und diskutieren Sie alternative Entscheidungen, die er hätte treffen können.
C. Beschreiben Sie die Konsequenzen, die Dr. Shmuels Handlungen für ihn und für andere Personen hatten.
5. Zerstörung und Kontinuität
A. Sehen Sie sich den Ausschnitt 21:00-21:25 (Das Tor von Auschwitz) an und diskutieren Sie die Bedeutung, die das Durchschreiten des Tors von Auschwitz für Ovadia hatte.
B. Sehen Sie die Ausschnitte 26:42-27:42 (Jacob) und 30:59-31:27 (Alisa) an. Diskutieren Sie die Bedeutung dieser beiden Begegnungen für Ovadias Leben in Auschwitz.
6. Das Leben nach 1945
A. Sehen Sie sich den Ausschnitt 41:40-41:55 (Emigration nach Israel) an. Es war oftmals nicht einfach für die überlebenden Jüdinnen und Juden Europas, nach dem Krieg in das damals britische Mandatsgebiet Palästina zu gelangen. Gehen Sie online. Finden Sie heraus, welche Hindernisse den Überlebenden entgegenstanden, wenn sie nach Palästina emigrieren wollten. Wann haben sich die Bedingungen geändert und wodurch?
B. Sehen Sie sich das Ende des Films 43:48-45:25 (Leben nach der Shoah) an. Diskutieren Sie, ob Sie das Ende als „Happy End“ bezeichnen würden. Begründen Sie Ihre Entscheidung.
7. Abschlussreflexion
A. Ovadia Baruch führte in Israel ein geselliges Leben. Gerne saß er in einem bestimmten Café und unterhielt sich dort mit anderen Menschen. Oft sprach er auch mit Kindern und Jugendlichen, die auf dem Weg zur Schule waren. Stellen Sie sich vor, Sie würden Ovadia in diesem Café begegnen: Worüber würden Sie gerne mit ihm sprechen?
B. Ovadia Baruch starb im Jahr 2010 in Jerusalem. Die Gelegenheiten, mit Überlebenden der Shoah zu sprechen, werden immer seltener, da viele von ihnen heute nicht mehr leben. Deswegen bemühen sich Yad Vashem und andere Einrichtungen, die Erinnerungen solcher Zeuginnen und Zeugen für spätere Generationen zu bewahren. Diskutieren Sie: Was können Filme mit Überlebenden der Shoah in Ihren Augen vermitteln und wo liegen ihre Grenzen?
Zeugen der Shoah im Film: Das Projekt „Witnesses and Education“ von Yad Vashem
1. Dialog und Medium
Über das „Ende der Zeitzeugenschaft“ wird bereits seit Jahrzehnten diskutiert, ebenso darüber, wie damit umzugehen sei. Im Zentrum dieser Debatte steht meist die Frage, wie die persönliche Begegnung mit Zeitzeugen im pädagogischen Kontext gleichsam „ersetzt“ werden könne, was dann wiederum digitale Formate auf den Plan ruft. Dabei ist bereits der Begriff des Zeitzeugen problematisch, da er historisch völlig entkontextualisiert ist – weder die Frage, was bezeugt wird (die Shoah, der Zweite Weltkrieg, die DDR-Diktatur) noch von wem Zeugnis abgelegt wird (Täter, Opfer, Bystander) ist in diesem Begriff definiert. In Deutschland befördern Fernsehformate, die sich des Zeitzeugen als Beglaubiger historischer Vorgänge bedienen, diese moralische sowohl wie inhaltliche Einebnung1. Durch die vermeintlich objektive mediale Inszenierung verschiedener Zeitzeugen werde ein „Nebeneinander konsensuell möglicher Positionen“ erzeugt und damit Widersprüche eingeebnet2. Um eine solche Gleichsetzung zu vermeiden, wird hier im Folgenden der Begriff des Zeitzeugen vermieden und anstatt dessen von Überlebenden oder Zeugen der Shoah gesprochen. Darüber hinaus ist meiner Meinung nach die Frage bereits falsch gestellt. Digitale Formate wie z. B. Interviews mit Zeugen der Shoah – am bekanntesten sind wohl die Sammlungen des Fortunoff Archives und der USC Shoah Foundation – oder biografisch-dokumentarische Filme wie die im Folgenden vorgestellten von Yad Vashem, sind Artefakte sui generis. Betrachtet man sie als „Ersatz“ für das Gespräch mit persönlich anwesenden Zeugen der Shoah, verdrängt man die mediale Bedingtheit – das Medium ist hier nicht nur eine Art Zusatz, sondern ist selbst Teil des Artefakts – sowie den damit zusammenhängenden Umstand, dass wir es bei der Arbeit mit digitalen Formaten nicht mit einem Dialog zu tun haben, sondern höchstens einem aufgezeichneten Dialog zuschauen und zuhören können, ohne selbst Fragen stellen oder Anmerkungen machen zu können. Neueste Formate wie beispielsweise das Hologramm der USC Shoah Foundation3 tragen noch dazu bei, diesen Unterschied unkenntlich zu machen, indem sie einen Dialog suggerieren, wo es sich doch eigentlich um Algorythmen handelt. Es ist fraglich, ob dies einem kompetenten Umgang mit digitalen Formaten zuträglich ist. Gewinnbringender erscheint es daher, digitale Zeugenschaft als Format eigener Art zu betrachten und sich die Frage zu stellen, welches Potential diesem für die pädagogische Arbeit innewohnt und wie dieses Potential zur Entfaltung gebracht werden kann.
2. Digitale Zeugnisse
Gleich anderen Formen der Zeugenschaft (Memoiren, Autobiografien, Berichte) unterscheiden sich audiovisuelle Zeugnisse von anderen historischen Quellen dadurch, dass sie die Ebene der persönlichen Erfahrung in sich verkörpern. Es ist überhaupt erst das subjektive Erleben, das die Autorität des Zeugnisses begründet, denn es geht in ihnen zumeist nicht vorrangig um die Erfassung oder Bestätigung einer „objektiven“ Wahrheit, sondern um die subjektive Aneignung und Verarbeitung des Erlebten. Audiovisuelle und literarische Zeugnisse unterscheiden sich wiederum voneinander durch ihre je spezifische Medialität und den Kontext ihrer Entstehung: Während der Verfasser einer Autobiografie, in der er über das während der Shoah Erlittene Zeugnis ablegt, dies in der Regel über einen längeren Zeitraum tut, das Geschriebene wieder und wieder lesen, redigieren oder neu schreiben kann, steht der Zeuge in audiovisuellen Formaten einem Interviewer oder Begleiter gegenüber, dem er unmittelbar antwortet. Damit haftet dem audiovisuellen Zeugnis der Charakter des Situativen und Interaktiven an, es ist eine Momentaufnahme, die im Zusammenspiel von mindestens zwei Personen gemeinsam erzeugt wird. Das bedeutet nicht, dass ein audiovisuelles Zeugnis zwingend unmittelbarer oder authentischer ist als ein schriftliches Zeugnis, zumal Interviews in der Regel gemeinsam mit dem Interviewten vorbereitet werden und einige Zeugen ja auch nicht zum ersten Mal vor der Kamera stehen. Es sind schlicht andere Faktoren, die hier eine Rolle spielen. Nicht nur die Fragen und die Haltung des Gesprächspartners sind bereits Teil des Ergebnisses. Schon das Setting, die Umgebung, andere anwesende Personen etc. haben ihren Anteil an dem Resultat. Durch ihre spezifische Medialität unterscheiden sich audiovisuelle Zeugnisse wiederum von persönlichen Gesprächen mit Zeugen der Shoah, das Medium verschmilzt mit seinem Inhalt und ist von diesem nicht mehr abzuziehen. Der Unterschied zwischen persönlichen Gesprächen mit Zeugen der Shoah und audiovisuellen Zeugnissen fällt gewissermaßen mit dem Unterschied zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis in eins4.
Wenn man bei Zeugnissen der Shoah im Allgemeinen und bei audiovisuellen Zeugnissen im Besonderen die Subjektivität als das entscheidende Charakteristikum ausmacht, gelangt man damit sogleich zur Gretchen-Frage: Wie wirkt sich diese Subjektivität des Zeugnisses auf dessen „Wahrheitsgehalt“ aus, auf dessen Präzision und Glaubwürdigkeit? Es ist unstrittig, dass sich in die Erinnerungen der Zeugen Elemente einschleusen, die erst durch später angeeignetes Wissen, durch Gelesenes oder Hörensagen hinzugekommen sind, nun aber Bestandteil des Zeugnisses geworden sind5. Bemängeln einige Historiker also die Ungenauigkeit der Erinnerung zumal so viele Jahre nach dem Ereignis, so besteht eine andere Gefahr in der Überhöhung oder Überidentifikation des Rezipienten mit dem Zeugen. Angesichts dieser Problematiken stellt sich die Frage, worin überhaupt der sp10ezifische Wert audiovisueller Zeugnisse liegt, was im Folgenden diskutiert werden soll.
Klar ist allerdings auch, dass die apodiktische Gegenüberstellung von subjektiven Zeugnissen und solchen historischen Quellen, die als objektiv angesehen werden, z. B. behördliche Schriftstücke, Fotos, die in offiziellem Auftrag entstanden sind u.a., in die Irre führt. In Zeugnissen der Shoah geht es weniger um die historisch exakte Rekonstruktion der geschichtlichen Ereignisse oder um die Bestätigung traditioneller Quellen. Die Dokumente der Täter sind nach wie vor unverzichtbar, um Abläufe, Institutionen, Akteure, Praktiken zu rekonstruieren. Gleichwohl muss man sich gewahr sein, dass es sich bei diesen Quellen um Herrschaftswissen handelt. Allein die euphemistischen Bezeichnungen für den organisierten Massenmord – „Evakuierung“, „Sonderbehandlung“, „Endlösung“ – zeugen von dem Standpunkt der Täter und davon, dass Täterquellen nichts weniger als objektive Quellen sind. Sie sind mit dem Ziel der Propaganda für die eigene Gesellschaft, der Vertuschung nach außen oder schlicht der Erniedrigung der Opfer erzeugt worden. Geoffrey Hartman, Gründer eines der ältesten Visual History Archives, spricht davon, dass durch diese Quellen nichts anderes entstehen würde als „das Bild einer sich selbst dokumentierenden Maschine“6 . Gleichwohl scheinen diese Quellen die öffentliche Wahrnehmung der Geschichte des Holocaust zu dominieren, sie werden beispielsweise auch heute noch in deutschen Schulbüchern oftmals ohne jeden weiteren Kommentar zu ihrem Ursprung verwendet7.
Die Erzählungen von Zeugen stellen demgegenüber ein Korrektiv, eine Gegenüberlieferung zur „offiziellen“ Narration dar. Die Zeugen sprechen für sich selbst und geben Auskunft von der Spiegelung der Geschichte im Individuum, von der Sichtweise der Individuen auf Geschichte, der Verarbeitung der Erlebnisse und Erfahrungen der Vergangenheit in der Gegenwart. Hartman legt dies folgendermaßen dar: „Sie [Zeugnisse von Überlebenden, B.H.] können eine Quelle für historisches Wissen sein oder dieses bestätigen, doch ihre wahre Stärke liegt darin, die psychologischen und emotionalen Begleitumstände des Kampfs ums Überleben zu registrieren – und dies nicht nur im Hinblick auf damals, sondern auch auf heute.“8 Anstatt Zeugnisse der Shoah also als sekundäre Bestätigung traditioneller Quellen zu betrachten, gilt es zu verstehen, dass es etwas gänzlich anderes ist, das wir aus den Zeugnissen lernen können, etwa „was es hieß, unter Bedingungen zu leben, in denen jede Form von sittlicher Wahl von den Verfolgern systematisch unmöglich gemacht wurde und in denen es so gut wie ausgeschlossen war, ein Held zu sein“9 .
Damit wird gerade der subjektive Charakter, der hier zumindest auch unverschleiert hervortritt, zum spezifischen Wert der Quelle. Verabschiedet man sich von der Erwartung, dass Zeugen der Shoah als Historiker fungieren müssen, so ermöglicht dies die Erkenntnis, dass es andere Qualitäten sind, die diese Zeugen uns mitzuteilen haben. Mehr noch: gerade die vermeintlich objektive Betrachtung der Shoah kann dann fragwürdig erscheinen. Der Schriftsteller Jean Améry, der von der Gestapo gefoltert und danach über Breendonk nach Auschwitz deportiert wurde, hat in den sechziger Jahren autobiografische Essays über das Erlittene verfasst. Es handelt sich hierbei um Erzählungen eines Zeugen, der Opfer geworden ist und der schon deshalb keinen Anspruch auf so etwas wie Objektivität erhebt. Im Gegenteil, der Vorstellung, das, was ihm wiederfahren war, einer objektiven Betrachtung zu unterziehen, entgegnet er: „Es hat die Untat als Untat keinen objektiven Charakter: Massenmord, Folter, Versehrung jeder Art sind objektiv nichts als Ketten physikalischer Ereignisse, beschreibbar in der formalisierten Sprache der Naturwissenschaften: Es sind Taten innerhalb eines physikalischen, nicht Taten innerhalb eines moralischen Systems.“
Überdies, so subjektiv die Erfahrungen der Überlebenden auch sein mögen, so verbirgt sich hinter ihnen gleichwohl ein kollektives Schicksal, sodass mit der Beschreibung dieses Verbrechens die subjektive Ebene auch gleich wieder überschritten wird. Dabei spielt möglicherweise auch eine Rolle, dass viele Überlebende der Shoah der Auffassung sind, gar nicht in erster Linie für sich zu sprechen, sondern für die, die kein Zeugnis mehr ablegen können, weil sie ermordet worden sind oder für immer verstummten. Claude Lanzmann spricht in diesem Sinne von den Zeugen, die in seinem Film Shoah sprechen, nicht als Überlebenden, sondern als „Wiedergänger, die fast schon im Jenseits über dem Boden des Krematoriums schwebten und zurückgekommen sind. Diese Menschen sagen niemals ‚ich‘, sie erzählen nicht ihre eigene Geschichte. Sie sagen ‚wir‘, weil sie für die Toten mit sprechen.“11 Was genau ist es, das diese Zeugen berichten, das über die Darstellung von „Ketten physikalischer Ereignisse“ hinaus geht?
3. Witnesses and Education
Das Projekt „Witnesses and Education“ geht auf eine Kooperation zwischen der International School for Holocaust Studies (ISHS), Yad Vashem und dem Multimedia Center der Hebrew University Jerusalem zurück. Es handelt sich dabei um biografisch-dokumentarische Filme mit Zeugen der Shoah, die seit 2007 erstellt werden. Diese Filme zeichnen die Lebenswege jüdischer Verfolgter der Shoah nach, die heute allesamt in Israel leben. Die Protagonisten werden in den Filmen dabei begleitet, wie sie an die Orte ihrer Kindheit, aber auch an die Orte der Verbrechen zurückkehren, und dabei über das Erlebte und Erlittene berichten.
Die Filme wurden von der Bildungsabteilung Yad Vashems mit der Absicht konzipiert, die biographischen Geschichten der Überlebenden für die Bildungsarbeit zugänglich zu machen. Daher finden sich auch wesentliche Prinzipien des pädagogischen Ansatzes Yad Vashems in den Filmen wieder: So bestärken die Filme die jüdische Perspektive auf die Shoah, indem sie auf die Selbstwahrnehmung der jüdischen Verfolgten setzen, anstatt über sie zu sprechen oder sie gar durch Propagandafilme und Fotografien gleichsam aus den Augen der Täter anzuschauen. Die Darstellung und Interpretation der historischen Ereignisse wird den Zeugen selbst überlassen, sie sind Subjekt, nicht Objekt der Dokumentation. Es sind ihre Stimmen, die wir hören, es sind ihre Gesichter, die wir sehen. Auch ist die Geschichte der Überlebenden nicht auf die Zeit der Verfolgung begrenzt. Zwar liegt hierauf der Schwerpunkt, jedoch wird darüber hinaus dem Leben vor der Verfolgung sowie dem Weiterleben danach einiger Raum gegeben. Auf diese Weise werden die Überlebenden nicht auf den Status des Opfers, zu dem die Täter sie machten, reduziert, sondern als komplexe, selbstbestimmte Individuen erfahrbar. Die Geschichten der Protagonisten spielen sich in verschiedenen Regionen Europas ab und selbst innerhalb jedes einzelnen Filmes führen die Lebenswege der Protagonisten über verschiedene Orte und Länder, teilweise durch Flucht, Deportation und Vertreibung, aber auch z. B. durch die bewusste Entscheidung zur Alija. Durch die Schilderung der Lebenswege verschiedener Familien wird somit einerseits der transnationale Charakter der Shoah, aber auch die Vielfältigkeit jüdischen Lebens in Europa vor 1933 erfahrbar.
Wesentliche Elemente in allen Filmen dieser Reihe sind Entscheidungen, Dilemmasituationen und Wendepunkte. Gerade diese Momente sind es, die anders als mit Zeugnissen der Überlebenden gar nicht darstellbar wären, da sie über die rein äußerlichen und quantifizierbaren Fakten hinausweisen. In den Erzählungen der Zeugen wird deutlich, wie stark ihr Handlungsspielraum durch die Maßnahmen der Täter bereits zusammengeschrumpft war. Zugleich konnten sie nicht nicht handeln, sondern mussten Entscheidungen unter Bedingungen treffen, die Lawrence Langer als „choiceless choice“12 bezeichnet. Vieles hing von der Willkür der Täter, vom Handeln anderer Akteure, oder auch vom Zufall ab, während sie selbst oft nur noch wenig Einfluss auf ihr Geschick nehmen konnten und dennoch verzweifelt versuchten, sich und ihre Familien zu retten. Somit wird die Geschichte der Shoah nicht zuletzt als das Resultat menschlichen Handelns erfahrbar. Sämtliche Protagonisten bestimmten mit ihrem Handeln und Entscheiden direkt oder indirekt den Fortgang des Geschehens, wobei die Bedingungen, unter denen sie dies taten, unterschiedlicher nicht sein konnten – je nachdem, auf welcher Seite des Geschehens sie standen.
Eine Sequenz aus der Geschichte von Malka Rosentha13l , die 1934 in Stanislawow geboren wurde, verdeutlicht diese Konstellation: Sie berichtet, dass sie sich, nachdem sie mithilfe ihres polnischen Kindermädchens aus dem Ghetto Stanislawow habe entkommen können, gemeinsam mit ihrer Mutter bei deren ehemaligem Professor in Lwow habe verstecken können. Nach einigen Monaten hätten Malka und ihre Mutter sich ein neues Versteck suchen müssen, weil jemand auf sie aufmerksam geworden und es zu gefährlich geworden sei. Um sich in einem kleinen Dorf zu verstecken, seien sie ein sehr hohes Risiko eingegangen und mit dem Zug in Richtung Ottynia gereist, hoffend, dass niemand sie erkennen würde. Aber der schlimmste Fall tritt ein. Ein Mitreisender habe gerufen: „Eine Jüdin und ihr jüdischer Balg!“14 und ein Tumult sei ausgebrochen, das ganze Abteil sei gewaltsam auf Mutter und Tochter losgegangen und Mitreisende hätten schon die Notbremse ziehen wollen, um die beiden der Gestapo zu übergeben. In dem Moment, so erzählt Malka, sei ein Ukrainer hervorgetreten und habe vor den möglichen Konsequenzen bei Betätigen der Notbremse für alle gewarnt und gesagt, dass er ohnehin aussteigen müsse und daher genauso gut die beiden mitnehmen und der Gestapo in seinem Ort übergeben könne. Beim Aussteigen habe er die beiden brutal vor sich hergestoßen. Erst als der Zug weitergefahren sei, habe er sich als Bekannter der Familie zu erkennen gegeben und ihnen geholfen, in das Versteck zu gelangen, in dem sich bereits Malkas Vater aufgehalten habe15.
Diese Sequenz gibt einige Auskunft über Kollaboration und Widerstand, Hilfe und Verrat. Der Rezipient lernt zum einen, dass das Handeln und Entscheiden von Malka und ihrer Mutter in einem Rahmen stattfand, der keinerlei wirkliche Optionen bot, sondern unter den Vorzeichen eines Genozids stand. Zum anderen wird sichtbar, dass das Handeln und Entscheiden anderer Personen eine große Rolle für den Fortgang der Geschichte spielte. Während völlig unbeteiligte Passagiere sich zum Verrat entscheiden und Mutter und Tochter den deutschen Behörden übergeben wollen, was wahrscheinlich einem Todesurteil gleichgekommen wäre, entscheidet sich ein Mann unter Vortäuschung falscher Tatsachen, den beiden zu helfen und damit zugleich ein erhebliches Risiko für sein eigenes Leben einzugehen. Diese Sequenz stößt verschiedene Fragen an, die in einem pädagogischen Kontext zu diskutieren wären: Zunächst einmal ließe sich beschreiben, welche Akteure welche Entscheidungen getroffen bzw. Handlungen ausgeführt haben. Dann gälte es, den Hintergrund dieser Entscheidungen und Handlungen zu analysieren. In Bezug auf Malka und ihre Mutter wäre beispielsweise zu klären: Welche Handlungsoptionen hatten sie, welches Risiko sind sie bei der Bahnfahrt eingegangen, was waren mögliche Konsequenzen, wären alternative Handlungen möglich gewesen? Die anderen Passagiere betreffend ließe sich fragen: was wussten sie über die Konsequenzen, die Malka und ihrer Mutter bei einer Auslieferung an die Gestapo drohten, welche Vorteile hätte diese Auslieferung für sie selbst gehabt, was war der ideologische Hintergrund ihres Handelns, welche alternativen Handlungen wären denkbar gewesen? Schließlich der Helfer: welches Risiko ging er selbst ein, konnte er die möglichen Folgen seines Handelns überblicken usw. Hierbei gilt es, historisch akkurat vorzugehen und diese Fragen nicht der Spekulation zu überlassen. Es lässt sich beispielsweise historisch nachweisen, welche Strafen im besetzten Polen darauf ausgesetzt waren, Juden zu helfen, auch das Vorhandensein antisemitischer Einstellungen innerhalb der polnischen und ukrainischen Gesellschaft ist belegt. Es geht dabei nicht darum, psychologisch zu ergründen, warum Person A eine andere Entscheidung getroffen hat als Person B. Wir wissen durch Malkas Zeugnis einfach, dass sie es tat und können nun versuchen, die Hintergründe und möglichen wie tatsächlichen Folgen dieses Handelns zu analysieren sowie es mit dem Handeln anderen beteiligter Akteure zu vergleichen, welches von Passivität über Kollaboration bis zu Hilfe reichte.
Es war jedoch nicht nur das Handeln anderer Akteure, welches oftmals buchstäblich über Leben und Tod entscheiden konnte. Auch der Aspekt des Zufalls sowie unvorhersehbarer Wendungen konnten eine große Rolle spielen. Der Film „Woher wird meine Hilfe kommen“16 erzählt das Leben der Schwestern Fanny und Betty Ichenhäuser, geboren 1919 und 1923 in Frankfurt am Main, die nach der Machtergreifung nach Holland flüchteten und deren Leben nach der deutschen Besatzung Hollands eine völlig unterschiedliche Wendung nahm, nachdem sie sich trennten. Die ältere Schwester, Fanny, hat die Möglichkeit, sich mit ihrem Mann auf dem Bauernhof bei einer holländischen Familie zu verstecken, ihr neugeborener Sohn ist in der gesamten Zeit bis Kriegsende bei verschiedenen anderen Personen versteckt. En passant erfahren wir hier übrigens auch, dass die Retter nicht immer lange ausgereifte, theoretisch fundierte Rettungsabsichten hatten, sondern dass Solidarität mit den Verfolgten für sie bisweilen einfach „selbstverständlich“ gewesen sei, wie im Falle von Fannys Helferfamilie17. Die jüngere Schwester, Betty, entschließt sich, bei der Mutter zu bleiben, da es zu riskant gewesen sei, die Mutter mit ins Versteck zu nehmen18. Während die ältere Schwester mit ihrem Mann im Versteck überlebt und dort ständiger Angst vor Entdeckung, die auch einige Male beinahe erfolgt, sowie quälender Platznot ausgesetzt ist, wird die jüngere Schwester mit der Mutter im September 1943 nachts aus ihrem Haus verschleppt und in Westerbork interniert, von wo aus die beiden Frauen im Januar 1944 weiter nach Bergen-Belsen deportiert werden und damit der Lebensgefahr in jeder Sekunde unmittelbar ausgeliefert sind. Die Entscheidungen der beiden Schwestern haben ihre Wege in einer Weise getrennt, die sie unmöglich vorher hätten antizipieren können. Auch hieran lässt sich erkennen, wie weit der Handlungsspielraum der jüdischen Verfolgten bereits von den Tätern eingeschränkt war, dass sie aber dennoch unter diesen dramatischen Bedingungen Tag für Tag handeln und entscheiden mussten, was oftmals zu fürchterlichen Dilemmasituationen führte – in diesem Fall musste sich Fanny von ihrem wenige Monate alten Baby trennen, um die Überlebenschancen für alle Beteiligten zu erhöhen, Betty musste sich zwischen der eigenen Rettung und dem Beistand für ihre Mutter entscheiden.
Die Verwendung der Filme in einem pädagogischen Kontext ist somit einerseits dazu geeignet, Empathie mit den Protagonisten zu erzeugen. Sowohl einer (Über-)Identifikation mit den Opfern als auch einer distanzierten Abwertung, die z. B. in der verständnislosen Frage, warum die Verfolgten „nicht einfach“ geflohen wären, Widerstand geleistet hätten etc. kann somit entgegengearbeitet werden. Die Rezipienten lernen, dass die Überlebenden autonome, komplexe Persönlichkeiten waren und sind, die von den historischen Ereignissen der Shoah auf unterschiedliche Weise betroffen waren, die jedoch auch ein Leben vor und nach der Verfolgung hatten oder immer noch haben. Schließlich dient die Analyse von Handlungen und Entscheidungen vor ihrem jeweiligen Handlungskontext dazu, zu einer differenzierten Bewertung anstatt einer pauschalen Vorverurteilung zu gelangen. Die Geschichte der Shoah wird als das Resultat menschlichen Handelns und Entscheidens erfahrbar. Damit wird der Mythos, man habe unter den Bedingungen einer Diktatur keine Wahl gehabt, entkräftet.
Abschließend wäre zu diskutieren, ob diese Filmreihe auch zur pädagogischen Arbeit in verschiedenen nationalen und kulturellen Kontexten geeignet ist. Zwar sind die meisten Filme bereits mit Untertiteln in mehreren Sprachen versehen. Ursprünglich sind die Filme jedoch für ein junges israelisches Publikum als Zielgruppe konzipiert worden. Bei allen Protagonisten handelt es sich um Personen, die sich nach der Shoah in Israel niedergelassen haben und zum Zeitpunkt der Dreharbeiten dort mit ihren Familien leben. Am Ende der Filme wird die Kontinuität jüdischen Lebens in Israel betont, indem die Familien der Überlebenden, ihre Kinder, Enkel, Urenkel usw. gezeigt oder zumindest erwähnt werden. Am prägnantesten ist dies wiederum im Film der Schwestern Ichenhäuser. Sie sitzen am Ende in Jerusalem auf einer Terrasse mit Panorama, die eine im Rollstuhl, die andere auf der Steintreppe daneben. Nach und nach kommen deren Familienmitglieder hinzu und wir lernen, dass die Schwestern zusammen insgesamt vier Kinder, vierzehn Enkel und zweiunddreißig Urenkel haben. Zwei der Enkel von Fanny, Aharon und Yonatan Razel, begleiten Teile des Films musikalisch. Schließlich sitzen die beiden Schwestern in einer großen Gruppe von Familienangehörigen aller Altersgruppen19. Läuft dieses Filmende mit dem Fokus auf Überleben und Kontinuität Gefahr, die Millionen Toten vergessen zu machen? Verschweigt es, dass die meisten Opfer der Shoah nicht die Möglichkeit eines „Neuanfangs“ hatten? Handelt es sich hier um ein „Happy End“? Nun, zum einen wäre eine Erzählung, die in der vollständigen Zerstörung endet, schwer in einem pädagogischen Kontext zu verwenden. Jedoch legt eine genauere Betrachtung die Verneinung dieser Fragen nahe. Die Erzählung wirklich jedes einzelnen Protagonisten der Filme ist von der Erfahrung des Verlusts und der Vernichtung um der Vernichtung willen durchzogen. Die Protagonisten erzählen von der Zerstörung ihrer Familien, welche als bleibendes Trauma geschildert wird. Der im damaligen Polen geborene Avraham Aviel20 , der seine Mutter und Brüder in der Shoah verlor, erinnert die Worte seines Vaters: „Mein Sohn, ich bin schon ein älterer Mann, aber du wirst überleben, und wirst eine Familie gründen und alles vergessen.“21 Mit seiner eigenen Kommentierung dieser Vater-Worte entkräftet Avraham jedoch jede Vorstellung vom „Glück“ des Überlebens: „Ich habe eine wundervolle Familie gegründet. Aber vergessen kann ich nicht.“ 22 Als die Deutschen besiegt wurden, sei ihm erst das Ausmaß der Katastrophe bewusst geworden. Zurück in der einstigen Heimat muss er feststellen, dass es diese Heimat nicht mehr gibt: „Es war niemand mehr da, es war keiner übrig geblieben.“23 So handelt es sich mitnichten um Geschichten mit Happy End, sondern um biografische Narrationen von Personen, die sich nach der Shoah bewusst dazu entschieden haben, ihre Zukunft im jüdischen Staat Israel zu sehen, der seine Bürger bestmöglich vor antisemitischen Übergriffen schützt. Dass das Überleben, welches überhaupt erst die Voraussetzung für eine Zukunft in Israel war, die Ausnahme und nicht die Regel war, wird in den Filmen schmerzhaft zu Bewusstsein gebracht.
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- 1.Vgl. dazu Judith Keilbach, Judith Keilbach: Zeugen, deutsche Opfer und traumatisierte Täter – Zur Inszenierung von Zeitzeugen in bundesdeutschen Fernsehdokumentationen über den Nationalsozialismus, in: Moshe Zuckermann (Hrsg.): Medien – Politik – Geschichte, Göttingen: Wallstein, 2003.
- 2.Ebd., S. 288.
- 3.What is Dimensions in Testimony?
- 4.Vgl. Michele Barichelli, Das Visual History Archive aus geschichtsdidaktischer Sicht, in: Siegrid Abenhausen u.a. (Hrsg.), Zeugen der Shoah. Die didaktische und wissenschaftliche Arbeit mit Video-Interviews des USC Shoah Foundation Institute, Berlin: Center für Digitale Systeme/Freie Universität Berlin, 2012, S. 45. Die Begriffe
- 5.Vgl. Geoffrey Hartman, Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, Berlin: Aufbau-Verlag, 1999, S. 207.
- 10.Jean Améry, Ressentiments, in: Ders., Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Werke Bd. 2, Stuttgart: Klett-Cotta, 2002, S. 130.
- 6.Ebd., S. 196.
- 7.Vgl. dazu Martin Liepach, Die Darstellung des Holocaust in deutschen Geschichtsbüchern, 2016.
- 8.Geoffrey Hartman, Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, Berlin: Aufbau-Verlag, 1999, S. 209.
- 9.Ebd., S. 195 f.
- 11.„Ich will den Heroismus zeigen“, Interview mit Claude Lanzmann in: Die Tageszeitung, 17. Mai 2001.
- 12.Lawrence Langer, Versions of Survival. The Holocaust and the Human Spirit, New York, State University of New York Press, 1982, S. 72.
- 13.Für dich wird sich der Himmel öffnen. Die Geschichte der Malka Rosenthal [DVD], Yad Vashem, Israel 2010.
- 14.Ebd., TC 19:15
- 15.Ebd., TC 16:43-24:17.
- 16.Woher wird meine Hilfe kommen? Die Geschichte zweier Schwestern: Fanny Rozelaar und Betty Meir [DVD], Yad Vashem, Israel 2011.
- 17.Ebd., TC 54:47.
- 18.„Meine Mutter konnte nicht schweigen. Sie konnte nicht still sein. Es lag einfach nicht in ihrer Natur“, so Betty. Ebd., TC 36:34.
- 19.Ebd., TC 57:23-57:41.
- 20.Es gab niemanden, zu dem ich beten konnte. Die Geschichte von Avraham Aviel, Yad Vashem [DVD], Israel 2010.
- 21.Ebd., TC 38:01.
- 22.Ebd., TC 38:42.
- 23.Ebd., TC 47:36.