Nicht nur die Erinnerung an die Shoah, sondern auch die spezifische Sicht auf die Vernichtung der europäischen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten tradiert sich über ihre künstlerische Vermittlung. Das Schreiben war bereits in den Ghettos und Lagern ein zentraler Bestandteil, den erlebten Schrecken zu dokumentieren, aber auch zu verarbeiten. Neben die Erinnerungsliteratur von Überlebenden rückte jedoch nach der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager auch die fiktionale Bearbeitung des Themas. Bruno Apitz „Nackt unter Wölfen“ ist einer der ersten Versuche, die Form des Romans für die fiktionale Bearbeitung der Konzentrationslagererfahrung fruchtbar zu machen. Zusammen mit Anna Seghers „Das siebte Kreuz“ wurde dieses Buch in der DDR zum Prototyp antifaschistischer Literatur überhaupt. In der DDR sahen neben Apitz auch zahlreiche andere Überlebende, die als Juden oder Kommunisten verfolgt wurden, nach 1945 die einzige legitime Konsequenz. Doch auch in der DDR-Gesellschaft, in der der Antifaschismus als Überzeugung etabliert werden sollte, entwickelten sich spezifische Formen der Aussparung und Verdrängung.
Anhand von „Nackt unter Wölfen“ sollen diese Aussparungen, Verdrängungen und Verschiebungen dargestellt werden. Dabei soll auch die Rezeption des Romans in die Analyse mit einbezogen werden. Vor allem die pädagogische Verarbeitung des Romans in den Lehrplänen der Schulen in der DDR soll hier als Beispiel dienen. „Nackt unter Wölfen“ kann dabei als Gegenstück zu Paul Celans „Todesfuge“ in der Bundesrepublik gesehen werden.\
Ähnlich wie die „Todesfuge“ wurde auch „Nackt unter Wölfen“ zum Sinnbild der künstlerischen Bearbeitung des Nationalsozialismus. Dabei wurden vor allem die Strukturen des Romans genutzt, um ihn für die besonderen politischen Intentionen, die auch in der DDR zunehmend aus dem Staatsinteresse abgeleitet wurden, nutzbar zu machen.
„Nackt unter Wölfen“ und die Erinnerungspolitik der DDR
Die Auseinandersetzung mit und Aufarbeitung der nationalsozialistischen deutschen Vernichtungspolitik und des Antisemitismus standen in der DDR unter paradoxen Vorzeichen. Während sich in der Bundesrepublik vor allem ein Verschweigen und Verdrängen der begangenen Verbrechen durchsetzte, war die DDR zunächst Hoffnung und Zufluchtsort für viele überlebende jüdische Kommunisten, die in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern interniert worden waren, für heimkehrende Exilanten und Juden, die im Kampf um das Überleben in den Vernichtungslagern zu überzeugten Antifaschisten geworden waren. Der ernst gemeinte antifaschistische Grundsatz, der den neuen deutschen Staat in allen seinen Bereichen bestimmen sollte, wurde jedoch nicht zur gewünschten „Ausrottung des Faschismus mit allen seinen Wurzeln“, sondern zu einer spezifischen Form der Aussparung und Verdrängung. Obwohl der Antifaschismus als Doktrin präsent und formuliert war, wurde er zu einem Artikulationsraum, in dem sowohl das Leiden, als auch die Verbrechen und vor allem die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden verschwanden.
Ein Grund dafür lag in der Unterordnung dieser Thematik unter außenpolitische Erwägungen, nicht nur im Blick auf den neu entstehenden Staat Israel und den sich anbahnenden Konflikt mit seinen arabischen Nachbarstaaten, sondern vor allem auch im Hinblick auf die sozialistischen Bündnispartner besonders in der Sowjetunion. Außerdem wurde die NS-Vergangenheit zum bevorzugten Schlachtfeld der aus der ideologischen Spaltung der Alliierten entstehenden Blockkonfrontation und des Kalten Krieges.
„Nackt unter Wölfen“ kann als literarisches Modell dieser DDR-Erinnerungskultur gelesen werden. Bruno Apitz passte sowohl durch seine Biographie, als auch durch den Stoff seines Romans in diese Sichtweise auf den Nationalsozialismus und ihre Funktionalisierung für eine neue staatliche Identität. Zusätzlich fielen beide, Stoffentwicklung und die Entstehung einer spezifischen DDR-Erinnerungskultur, in ihren ersten Etappen zusammen.
Apitz war ein klassisches Arbeiterkind der Jahrhundertwende. Am 28. April 1900 wurde er in Leipzig als zwölftes Kind eines Wachstuchdruckers und einer Waschfrau geboren. Er wurde Stempelschneider und trat ab 1914 zunächst in den Arbeiterbildungsverein, dann in die Sozialistische Arbeiterjugend und schließlich in die SPD ein. 1917 saß er das erste Mal in Haft, nachdem er vor streikenden Munitionsarbeitern gegen die Fortdauer des Ersten Weltkrieges gewettert hatte. Er wurde wegen „Landesverrats“ zu einem Jahr und sieben Monaten Gefängnis verurteilt. In der Halft begann er sich mit Literatur zu beschäftigen und schrieb erste Gedichte. Nach seiner Begnadigung beteiligte er sich an der Novemberrevolution, veröffentlichte 1920 Kurzgeschichten und Gedichte und schrieb sein erstes Theaterstück „Der Mensch im Nacken“.
Nach der Machtübergabe an die NSDAP wurde Apitz erneut verhaftet und blieb drei Monate in „Schutzhaft“. 1937 wurde er in das KZ Buchenwald gebracht, arbeitete dort zunächst im Arbeitskommando Bildhauerei und anschließend in der Pathologie. Er schrieb Gedichte, Theaterstücke und Texte.
Nach der Befreiung von Buchenwald arbeitete Apitz für die KPD und wurde Redakteur der „Leipziger Volkszeitung“. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der SED, wurde Verwaltungsdirektor des Stadttheaters in Leipzig und arbeitete für den Rundfunk der DDR. Seit 1952 war Apitz als Dramaturg bei der Deutschen Film AG (DEFA) tätig, wurde dort jedoch 1955 wieder entlassen. Von nun an arbeitete er als freischaffender Schriftsteller. 1958 erschien „Nackt unter Wölfen“, 1976 sein autobiographischer Roman „Der Regenbogen“.
1979 starb Apitz in Ost-Berlin. Posthum erschien 1984 sein letzter Roman „Schwelbrand“. Obwohl „Nackt unter Wölfen“ den Ton des Antifaschismus der DDR-Kulturpolitik genau zu treffen scheint, war er kein willkommenes literarisches Geschenk für den neu gegründeten sozialistischen Staat, sondern begegnete zunächst politischen und künstlerischen Tabus. Seine Entstehungsgeschichte lässt daher auch den Roman in einem anderen Licht erscheinen.
Gleichzeitig verdeutlicht sie, genauso wie die spätere Rezeption des Werkes, die Formen der Aussparung und Umschreibung in der Erinnerungspolitik der DDR.
Zunächst kein willkommenes Thema
Bereits während seiner Internierung in Buchenwald trug Apitz den Gedanken, einen Roman über die Lagerrealität und vor allem über eine wahre Geschichte dieser Zeit zu erzählen. Es war die Geschichte der Rettung eines polnisch-jüdischen Kindes durch die Mitgefangenen, eine Rettung, die allerdings den heldenhaften Pathos des späteren Romans entbehrte, aber dennoch sicherlich nicht weniger Hoffnung spendend für die Häftlinge gewesen sein dürfte. Im Gegensatz zum Buchenwald-Kind aus „Nackt unter Wölfen“ war Stefan Jerzy Zweig zusammen mit seinem Vater 1944 per Viehwaggon verschleppt worden. Stefan Jerzy war ordnungsgemäß registriert, aber ob der besonderen Gefahr für Kinder im Lager wurde er sofort von den Häftlingen versteckt. Seine Rettung verdankte er weniger dem „Internationalen Lagerkomitee“, als den „einfachen“ Häftlingen der Effektenkammer und der Lagerselbstverwaltung. Am 25. September 1944 sollte Stefan Jerzy noch nach Auschwitz deportiert werden. Sein Name wurde aber von der Liste gestrichen. Allerdings nicht ersatzlos: Für den Jungen ging ein sechzehnjähriger „Zigeuner“ auf „Transport“, eine Grenzsituation humanitären Handelns im KZ, die im Roman keinen Platz fand. Jedoch - und auch das gehört zur Geschichte des Romans: Als Stefan Jerzy Zweig nach der Wiedervereinigung die Gedenkstätte Buchenwald besuchte, stand er in der ehemaligen Effektenkammer vor einem weißen Fleck, wo einst eine Tafel hing, die an sein Schicksal (und das der Retter) erinnert hatte.
Nach der Befreiung wurde die Geschichte der Rettung des jüdischen Kindes zum Katalysator um die eigenen Erfahrungen von Apitz zu verarbeiten. Als er Dramaturg bei der DEFA wurde, versuchte er die Geschichte dort unterzubringen und verfasste einen Drehbuchentwurf, in dem viel stärker als in der Romanfassung das Kind und seine Rettung im Vordergrund standen, während das Lagerkomitee und die Partei nur am äußersten Rand vorkamen. Allerdings wurde der Entwurf von der DEFA mit der Begründung abgelehnt, die Zeit für KZ-Geschichten sei längst vorbei. Apitz versuchte sich als freier Schriftsteller an der Ausarbeitung des Stoffes zu einem Roman. Finanzielle Unterstützung für den verdienten Genossen kam aber nur zögerlich. Ihm wurde das Projekt nicht zugetraut.
Die Ablehnung des Stoffes von Seiten der DDR-Offiziellen muss vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Haltung der DDR zum Nationalsozialismus interpretiert werden. Apitz Fokus auf das Leiden der Häftlinge und dann noch auf ein wehrloses Kind jüdisch-polnischer Herkunft passte nicht zum Bild des wehrhaften Antifaschisten.
Darum stand in der künstlerischen Aufbereitung nicht das Leiden, sondern der Kampf im Mittelpunkt, immer im Kontext des alles umfassenden Klassenkampfes.
Von Apitz Roman wurde eben dieser Aspekt erwartet. Aus der Geschichte eines Kindes wurde so ein „Hohelied des antifaschistischen Kampfes“ (Peter Hoff), indem Apitz die Rettung des Kindes in die Aktivitäten des Lagerkomitees einbettete.
Als Parabel für die - vermeintlich - ungebrochen heldenhafte Geschichte des kommunistischen Widerstands wurde „Nackt unter Wölfen“ schließlich zum Sinnbild neuer sozialistischer Kunst. Bereits der Vorabdruck in der „Berliner Zeitung“ wurde ein Erfolg. Die Erstauflage des Romans war sofort ausverkauft. Apitz erhielt den Nationalpreis, der Roman wurde zweimal verfilmt, als Hörspiel umgearbeitet und zum festen Bestandteil des Schulstoffs der DDR.
Figürliche Sprache und Projektionsfläche
Handlungsort des Romans ist das deutsche Konzentrationslager Buchenwald. Das Lager begrenzt die Handlung räumlich, wie bereits der ersten Satz festhält: „Die Bäume auf dem Gipfel des Ettersberges troffen vor Nässe und ragten reglos in das Schweigen hinein, das den Berg umhüllte und ihn absonderte von der Landschaft ringsum.“ (S. 5) Die Geschichte spielt ausschließlich in den Baracken des Lagers und in den umstehenden Gebäuden der SS. Bis auf die kurze Episode der Folterung und Ermordung des Effektenkammerhäftlings Pippig hält sich Apitz an diese räumliche Begrenzung. Das Außen verschmilzt damit zu einer unwirklichen Welt. Das Lager wird zu einem eigenen Kosmos, mit der Außenwelt lediglich verbunden durch die Häftlinge, die aus anderen Lagern nach Buchenwald verschleppt werden, sowie durch die wage Hoffnung auf Befreiung in Form von Frontverlaufsberichten, Gefechtslärm und Flugzeugen. Apitz versucht damit bewusst, eine Atmosphäre der Eingeschlossenheit, aber auch der Exklusivität zu schaffen, die die Realitätswahrnehmung der Häftlinge bestimmt und auf vergleichbare reale Erfahrungen einer spezifischen Lagerrealität mit neuer Sprache, neuer Hierarchie, eigener Zeit und Geschichte zurückgeht.
Die Aufteilung der handelnden Figuren entlang einer klaren Trennlinie von Gut und Böse und die Notwendigkeit sich in einem Roman auf ein Figurenensemble zu beschränken, tun dazu ein Übriges. Ein Gesicht verleiht Apitz nur denjenigen, die entweder als Illegale Widerstand leisten oder sich als aufrechte Kommunisten angesichts der Bedrohung dazu entschließen. Die übrigen Häftlinge bleiben gesichtslos und verschwinden in der Masse, ihres Subjektstatus von den Nazis beraubt und durch die Darstellung im Roman, erneut vollzogen.
renzfiguren, wie z.B. der im Bunker arbeitende Förste, die sich dieser eindeutigen Zuordnung entziehen, werden weitgehend von den kommunistischen Protagonisten verdeckt. Die Beschreibung und Charakterisierung der Täter ermöglicht hingegen eine einfache Abgrenzung: „Der knochige, hagere Kluttig, ein uninteressanter Mensch von etwa 35 Jahren, mit überlanger, knollig auslaufender Nase“ (S. 37). Sie sind wie Susanne zur Nieden schreibt: „durchweg körperlich und charakterlich abstoßend.“ In Person des Folterknechtes Mandrill wird der Täter schließlich zur barbarischen Bestie: „Auf dem Tisch des Mandrill stand ein Totenschädel, der innen beleuchtet war. Daneben lag eine Knute aus langen Lederriemen, zu einem elastischen Vierkant zusammengenäht und mit dicken Messingkuppen versehen.“ (S. 67) Nicht die Konfrontation mit den eigenen Taten hält Apitz seinem ostdeutschen Publikum vor, sondern er ermöglicht einfache Identifikation mit den Opfern und die leichte Distanzierung von den Tätern. Ein Angebot, das in der Rezeption des Romans im Kontext der Verschiebung in der DDR-Geschichtsschreibung hin zu einer Loslösung von den eigenen Taten dankbar aufgenommen wurde.
Bei Bruno Apitz stellt sich wie auch bei anderen Autoren, die über den Holocaust und die Verbrechen in den Konzentrationslagern schreiben, das grundlegende Problem der sprachlichen Vermittlung. Im Roman dominiert eine „figürliche Sprache“, die bereits im Titel durch eine Tier-Metapher deutlich wird, die Apitz auf die Täter bezieht. Sie sind die Wölfe. Er benutzt dieses Bild auch in der sprachlichen Gestaltung der Handlung. Die SS-Männer haben „trübe Doggenaugen“ (S. 37), werden zum „Raubvogel“ (S. 351) oder „Wolf“ (S. 359), nennen sich „Zuchthausbulle“ (S. 38) oder „Hund“ (S. 50), und werden abstrakt zur „Hölle der wilden Tiere“ (S. 234).
Die Tiervergleiche dienen zur Abgrenzung zwischen Opfer und Täter: „So wie seine Zebrakleidung ein Gitter war, hinter dem der Mensch niedergehalten wurde, so war die graue Uniform des SS-Mannes ein Panzer, undurchstoßbar, und dahinter lauerte es, verschlagen, feig und gefährlich, wie eine Raubkatze im Dschungel.“ (S. 140) Hier wird deutlich, dass sich zwar hinter dem Opfer ein Mensch verbirgt, der diese Menschlichkeit durch die sprachliche Vergegenwärtigung des Romans wiedererlangen soll, dass jedoch hinter dem SS-Mann ein Tier lauert, anstatt auch und gerade die Täter als Produkt ihrer Gesellschaft auszuweisen. Auch diese Polarisierung erleichtert die Abgrenzung und ermöglicht die Ausblendung der Auseinandersetzung mit den Tätern und damit den Taten.
Doch nicht nur für die Täter nutzt Apitz die Tiermetapher. Sie dient ihm auch zur Beschreibung des jüdischen Kindes. Es wird in den Beschreibungen der Häftlinge, aber auch in der Bildsprache des Autors mehrfach mit Tieren verglichen. Zwar wird das Kind als „jüdisch-polnisch“ im Roman eingeführt, kommt aus Auschwitz und wird in einem Koffer, dem Symbol für die Vertreibung der Juden und Aneignung ihres Vermögens, ins Lager geschmuggelt. (S. 15) Doch statt daraus einen konkreten Hintergrund zu machen, verstärkt der Roman die unpersönliche Darstellung des Kindes ohne Namen durch Tiermetaphern. Seine Entdeckung in der Effektenkammer wird wie eine Entpuppung beschrieben: „Im Koffer lag, in sich verkrümmt, ein Händchen vors Gesicht gedrückt, ein in Lumpen gehülltes Kind. Ein Knabe, nicht älter als drei Jahre.“ (S. 17)
Diese Anleihe aus der Biologie wird verstärkt durch den expliziten Vergleich mit einem Insekt und einem Käfer (S. 20). Später wird es zum „Maikäfer“ (S. 234, S. 433), auch hier die Metapher des Insekts. Zusätzlich werden positivere Tiermetaphern gewählt, so wird es als „Miezekätzchen“ (S. 18) oder „kleiner Bär“ (S. 113) beschrieben und schaut mit „sammetwarmen Augen eines jungen schönen Tieres“ (S. 231). Trotz der Aufforderung Krämers, nachdem der Junge im Schweinestall des Lagers „wiedergefunden“ wird: „Seht zu, daß ihr aus dem da wieder einen Menschen macht...“ (S. 396) wird das Kind nicht aus der Bildsprache des Tierreiches entlassen. Für Krämer ist es kurz vor der Befreiung noch immer der „kleine Maikäfer“ (S. 433).
Leerstelle Judentum
Hier soll eine Deutung der Figur des jüdischen Kindes vorgeschlagen werden, die dieses als Projektionsfläche für die Ziele einer von ihm als konkretem Menschen entrückten politisch-moralischen Bewegung, sowie als Leerstelle für das im Roman ausgeblendete Leiden der jüdischen Opfer, interpretiert. Bereits die dramaturgische Bedeutung des Kindes als Auslöser eines notwendigen Konflikts, um das eigentliche Problem des Romans, das des antifaschistischen Kämpfers im Widerstreit von Herz und Verstand, auszubreiten und seine Beschreibung als „sentimentalen Brennpunkt“ verweist auf die Unwirklichkeit dieser Figur. So ist es zwar eindeutig identifiziert mit dem Judentum, da es sich um ein jüdisch-polnisches Kind handelt und außerdem Symbol für die Vernichtung der Juden durch die Rückbindung an das Vernichtungslager Auschwitz, dennoch geht es dem Roman nicht darum, diese Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden anhand des Kindes zu erzählen. Vielmehr wird es zum „Kronzeugen für das moralisch-menschliche Engagement des politischen Widerstandes gegenüber den Opfern des Genozids an den europäischen Juden.“ Es handelt sich dabei um eine Verschiebung: Verfolgung und Vernichtung werden durch den veränderten Fokus auf die glückliche Rettung überdeckt. Das individuelle Schicksal wird zum Träger allgemeiner Prinzipien, der Motive „Befreiung“ und „Sieg“.
Eine Leerstelle bildet die Figur des Kindes deshalb, weil es zwar als jüdisch bezeichnet, seine Beziehung zur jüdischen Identität aber nicht deutlich gemacht wird. „Indem die Leerstellen eine ausgesparte Beziehung anzeigen, geben sie die Beziehbarkeit der bezeichneten Positionen für die Vorstellung des Lesers frei“, schreibt Wolfgang Iser über den „Akt des Lesens“. In „Nackt unter Wölfen“ ist die Figur des Kindes eine Leerstelle insofern, dass ihr spezifischer Ort nicht realisiert wird. Sie ist zwar über den Topos des Judentums besetzt, dies wird im Roman jedoch nicht zurückgebunden an die Beschreibung einer realen Beziehung. So ermöglicht diese ausgesparte Beziehung, die Figur des Kindes als Bild des unschuldigen Opfers in die Motivekomplexe Befreiung und Sieg zu integrieren. Gleichzeitig verschwindet es dahinter. Die Leser haben nun die Wahl, in ihrer Lesart die ausgesparte Beziehung zum Judentum herzustellen, verschwinden zu lassen oder auf bestimmte Art und Weise zu besetzen. Damit werden neben dem Kind aber auch die ausgesparte Vernichtung der europäischen Juden und das Judentum zu einem Teil der Möglichkeiten, deren Besetzung durch die Leser vorgenommen wird. Es entwickelt sich ein Verhältnis der Projektion und des Nichtwissens, das sich entweder in Richtung Aussparung und Verdrängung oder in die Richtung einer Emotionalisierung und Idealisierung entwickeln kann.
Diese Lesart wird neben der dramaturgischen Funktion des Kindes und seiner Symbolfunktion auch durch die Darstellung verstärkt, die das Kind der Realität entrückt und es unwirklich erscheinen lässt: „Das schmale Gesicht hatte bereits den Ernst des wissenden Menschen, und auf den Augen lag ein Glanz, der kein Kinderglanz war.“ (S. 18) Die Projektion der Häftlinge auf das Kind, die durch Bilder wie „Geschenk“ (S. 18) oder den Vergleich mit einer Pistole, der „Walther 7,65mm“ (S. 27), deutlich wird, überträgt sich auch auf die Beschreibungsebene. Statt die angedeutete Traumatisierung zu sehen, die das Kind vielleicht „erwachsener“ macht, als es ist, wird dies als „Ernst des wissenden Menschen“ interpretiert und transzendiert im „Glanz“, der auf den Augen des Kindes liegt.
Die Verfremdung des Kindes findet sich auch im Blick der Häftlinge: „Fassungslos sahen die drei das sonderbare Wesen an.“ (S. 20) Auch hier wird in ihrem Blick das Kind der Realität entrückt - bereits vorweggenommen durch die Tiermetapher - und zu einem „sonderbaren Wesen“, was gleichzeitig seine Fremdheit affirmiert. Als Auslöser der Projektionen der Häftlinge wird das Kind zu einem engelsgleichen transzendentalen Wesen. „Hielt nicht das Kind unwissend und in schuldlosen Händen, den Faden, an dem alles hing?“ sinnt Krämer (S. 234) und es wird deutlich, dass der konkrete Mensch hinter dieser Projektion verschwindet. Die Leerstelle wird allerdings nicht als Bild des Sinnverlustes aufgefasst, indem so die Beziehungslosigkeit selbst thematisiert würde. Statt dessen wird das Kind zum „Topos öffentlicher Erinnerung“ , zu einem entsubjektivierten Symbol in einer halbauthentischen Grauzone, dessen bloße Existenz zum Sinnbild für die Existenz des politischen Apparats wird, wie dies auch in der DDR-Pädagogik herausgestellt wurde: „Seine Existenz wird schließlich innerhalb des KZ's gleichbedeutend mit der Weiterexistenz des Internationalen Lagerkomitees (ILK), mit der Rettung des Lebens Zehntausender von Häftlingen, es wird zum Symbol des Lebens, des Sieges, der Zukunft.“
Zunächst bietet diese Analogie die Möglichkeit den Blick vom Opfer und dem dahinter befindlichen Blick auf Judentum und Vernichtung auf die Ebene des politischen Widerstandes zu verlagern. Die Widersprüchlichkeit in der Darstellung dieser politischen Ebene kann dann hinter unspezifischen Abstraktionen wie Leben, Sieg und Zukunft ebenfalls verschwinden.
„Nackt unter Wölfen“ als Schulstoff
„Nackt unter Wölfen“ wurde bereits zu Beginn der 60er Jahre zum zentralen Bestandteil der DDR-Pädagogik im Unterrichtsfach Deutsch. Zunächst war er für die Jahrgangsstufen 10. und 12. vorgesehen, seit den 70er Jahren wurde es Teil des Lehrplanes für die Jahrgangsstufe 9. In einem Aufsatz in der Zeitschrift „Deutschunterricht“ umriss Dieter Wuckel die pädagogische Arbeit mit dem Roman, den er als Apitz' Reaktion auf die Kontinuität des 'Faschismus' in Westdeutschland interpretierte. Dabei verschwimmen politisch-inhaltliche Wertungen und sprachliche Analyseschemata bis hin zur Unterordnung der letzteren unter pädagogisch-ideologisch wertvolle „Erziehungsziele“. Die „antithetische Kompositionsweise“ des Romans beispielsweise mit der Apitz Häftlinge und SS kontrastiert, baut Wuckel zum großen Gegensatz zwischen dem Internationalen Lagerkomitee und den „SS-Banditen“ aus. Besonders die Bewertung des Internationalen Lagerkomitees als Repräsentant der Arbeiterklasse und damit Vorläufer der DDR nimmt breiten Raum in der Unterrichtskonzeption ein. Doch er konstatiert warnend: „Leider verschiebt sich allerdings nach meinen Erfahrungen in diesen Inhaltsangaben der Schwerpunkt, und die Schüler konzentrieren sich auf die Rettung des Kindes, statt die Befreiung des Lagers in den Mittelpunkt zu rücken. Deshalb sollte man den Ansatzpunkt geben.“
So soll der Blick der Schüler auf die „große Verantwortung gegenüber den Häftlingen“ gelenkt werden bis zu der Erkenntnis, dass sich „die Parteileitung des Lagers als wirklich marxistisch-leninistische Führung“ bewährt. Das ist die Erkenntnis, auf die sich die Diskussion des Grundkonfliktes zuspitzen soll. Wuckel wiederholt damit die Verschiebung und Reduzierung der Geschichte, die Apitz bereits angesichts der antifaschistischen Grundsätze der DDR vollzogen hatte. Im Unterrichtsstoff wird das Kind mit der Grundfabel erneut zum Verschwinden gemacht, um den Fokus ausschließlich auf das Internationale Lagerkomitee zu lenken.
Im Nachvollzug der DDR-Erinnerungspolitik verschob sich anhand des Romans die Schuld und die Abwehr des NS-Faschismus auf die BRD, während gerade die Fokussierung auf das „Internationale Lagerkomitee“ und den Widerstand zur eigenen Entlastung dienen: „In der Deutschen Demokratischen Republik jedoch sind die 'Wölfe' auf immer ausgerottet. Und die 'Nackten' von damals sind heute gewaffnet! Sie haben die Lehren aus der Geschichte gezogen. Sie haben den Schwur von Buchenwald erfüllt und werden nicht ruhen, bis auch der letzte Schuldige dem Gericht der Völker übergeben wird. Sie werden jeden Wolf vernichten, der es wagt, in unser blühendes Land einzudringen.“ Die Kompensation des Sinnverlusts über eine nachträgliche Sinngebung führte allerdings zum Verschwinden der Vergangenheit und ihrer Verbrechen hinter der Gegenwart.
Antifaschismus und Erinnerung in der DDR
So führten paradoxer Weise in der DDR gerade die Thematisierung des Antifaschismus und des Widerstandes zur Verdeckung der spezifischen Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden, denn mit dem 'Faschismus' schien auch das Judentum faktisch abgeschafft. Es wurde zur Privatsache, zum Glauben unter vielen. Wie in der Bundesrepublik konnte so weder eine Verlusterfahrung, noch Trauer über die Ermordung der jüdischen Mitbürger aufkommen. Das Bild des Kindes, als mit dem Judentum besetzte Leerstelle, kann dabei als symptomatisch für die Erinnerungskultur der DDR gesehen werden. Judentum und jüdische Kultur waren zwar in der DDR präsent, sowohl in Gestalt der jüdischen Überlebenden, als auch in Gestalt der sich neu formierenden jüdischen Gemeinden, sie waren jedoch nur ein Symbol, Grußadresse für offizielle Feierstunden und Erinnerungstage. Ansonsten verschwanden sie hinter dem politischen Widerstand, in dessen Tradition sich die DDR verortete. Als „rassisch“ Verfolgte passten sie nicht in das Konzept des Klassenkampfes. Prominente Juden in der DDR waren daher vor allem als Widerstandskämpfer und Kommunisten angesehene Mitglieder der Gesellschaft. Judentum und Leidenserfahrung verschwanden hinter dem kollektiven Mythos, Opfer und Kämpfer zu sein.
Die Nichtthematisierung des Judentums und des jüdische Leidens hatte aber vor allem Folgen für die gesellschaftliche Rezeption des Holocaust. Zum einen war die „Leerstelle Judentum“ ein Ort der Nichtinformation. Wissen über das Judentum und jüdische Geschichte konnte über eine solche „Leerstelle“ nicht angeeignet werden. Zum anderen war die „Leerstelle“ ein Ort der Projektion. Judentum und jüdische Geschichte wurden von den (größtenteils) nichtjüdischen Mitgliedern der DDR-Gesellschaft besetzt, was auch zu einer Tradierung von Ressentiments führen konnte. Drittens war die „Leerstelle“ ein Ort der Entschuldung. Durch das Verschwinden eines Teils der Opfer hinter der einseitigen Traditionslinie zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus kam eine spezifische Form der Verdrängung eigener Schuld in der DDR in Gang. Die Bevölkerung, mit der ein sozialistischer Staat aufgebaut werden sollte, war aber dieselbe wie zur Zeit des Nationalsozialismus. Die daraus resultierende gesellschaftliche Diskussion über Schuld, Verbrechen und Kontinuität wurde jedoch durch diese einseitige Entschuldung übergangenen.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass eine endgültige Bewertung der DDR-Erinnerungspolitik und auch des Romans „Nackt unter Wölfen“ nur in einer vergleichenden Analyse mit der Entwicklung in der Bundesrepublik gefällt werden kann. Denn zumindest solange, wie die antifaschistische Kultur- und Erziehungspolitik noch nicht vollständig in der Systemauseinandersetzung aufgegangen war, war die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus doch ein zentrales Anliegen eines großen Teils derjenigen, die die DDR aufgrund ihrer Erfahrungen in den Konzentrations- und Todeslagern der Nazis mit aufgebaut hatten. Anders als in der Bundesrepublik wurde der deutsche Faschismus, wenn auch ideologisch reduziert, thematisiert. In der Bundesrepublik thematisierten Autoren wie Wolfgang Hildesheimer ihre jüdische Herkunft in ihren Texten nur versteckt. In den Anfangsjahren wurden Judentum und Vernichtung fast komplett ausgeblendet, später dienten künstlerisch-ästhetische Probleme der Darstellung des Holocaust als vorgeschobene Schreib- und Redeverbote, die dem gesellschaftlichen Schweigen und der Schuldkompensation im Zuge des Wiederaufbaus entsprachen.
Tobias Ebbrecht-Hartmann ist Film- und Medienwissenschaftler und Autor der Studie „Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust“ (Bielefeld 2011). Im Wintersemester 2012/13 war er Forschungsstipendiat am International Institute for Holocaust Research Yad Vashem und hat über Archivfilme aus der Zeit des Holocaust geforscht. Im Rahmen eines Forschungsprojekts (Das Studentenfilmarchiv der HFF »Konrad Wolf« von 1954 bis heute) arbeitet er derzeit an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf.