Simcha Epstein
Die Nationalsozialisten, 1928 noch eine kleine und unbedeutende politische Gruppierung (bei den Wahlen im Mai desselben Jahres errangen sie nur 2,6 % aller Stimmen), kamen 1933 an die Macht. Wie verhielten sich die deutschen Juden in diesen fünf entscheidenden Jahren? Wie reagierten sie auf den ständig anwachsenden Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung?
Ein großer Teil der Juden Deutschlands gehörte dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) an. Diese 1893 gegründete Organisation zählte 70 000 Mitglieder (eine hohe Zahl, wenn man bedenkt, dass insgesamt 600 000 Juden in Deutschland lebten, also 1% der Gesamtbevölkerung) und verteilte sich auf mehrere Hundert Ortsvereine. Somit war sie die größte Bewegung der Juden innerhalb Deutschlands und zudem die stärkste Selbstschutzorganisation der Juden Westeuropas. Ausgestattet mit einem beträchtlichen Budget und unterstützt durch einen administrativen Stab von 100 festen Mitarbeitern konzentrierte sich der CV auf die Bekämpfung des Antisemitismus sowohl auf juristischer als auch journalistischer Ebene.
Bekanntheit erlangte der Verein im Rahmen der letzten beiden anti-jüdischen Krisen – die erste zum Ende des 19. Jahrhunderts, die zweite zwischen 1920 und 1923. Der CV verfolgte ein emanzipatorisches Programm, verstand die Juden als Teil der deutschen Nation und beharrte auf der Verteidigung der im vorherigen Jahrhundert erlangten Gleichberechtigung. Während jüdische Nationalisten dem Verein vorwarfen, Juden zur Assimilation zur verleiten; lehnte die extreme Linke ihn als Verein der Bourgeoisie ab.
Der erste Kampfschauplatz des CV waren die Gerichtssäle. Die in der Tradition des Liberalismus stehende Weimarer Verfassung verankerte in ihrer Gesetzgebung eine extrem weite Auslegung der Meinungsfreiheit. Dieser Umstand erleichterte jüdischen Juristen, die Prozesse gegen rassistische Publikationen anstrengen sollten, nicht unbedingt ihre Arbeit. Einige Artikel des Reichsstrafgesetzbuches und der Verfassung ermöglichten es ihnen dennoch, eindrucksvolle juristische Kämpfe auszufechten, in deren Folge rassistische Zeitungen sogar recht häufig der Diffamierung für schuldig befunden wurden.
Mit der größer werdenden Beteiligung jüdischer Juristen nahmen derartige Bemühungen zu. Einige von ihnen waren sogar fest angestellte Mitarbeiter des CV. Doch die Mehrheit engagierte sich auf freiwilliger Basis. So fand 1927 ein Kongress statt, auf dem über das künftige taktische Vorgehen und die Vereinheitlichung der Methoden beraten wurde und an dem 400 Anwälte aus 80 verschiedenen Städten teilnahmen. Die Ergebnisse waren oft ermutigend: Nationalsozialistische Veröffentlichungen wurden vorübergehend eingestellt und ihre Urheber entweder zu Geld- oder sogar Gefängnisstrafen verurteilt. Tatsächlich verhinderte die juristische Verfolgung jedoch weder den Popularitätszuwachs der Nationalsozialisten noch den politischen Durchbruch, den sie in den kommenden Jahren bei verschiedenen Wahlen erreichen konnten und der sie im Jahre 1933 schließlich an die Macht bringen sollte.
Jüdische Journalisten und Schriftsteller trugen ebenfalls zur Bekämpfung des Nationalsozialismus bei. Sie schrieben sowohl für die wöchentlich erscheinende CV Zeitung als auch für deren monatlich erscheinende an ein nicht-jüdisches Publikum adressierte Ausgabe. Zudem veröffentlichten sie Dutzende von Büchern und Broschüren, welche eine anti-rassistische Botschaft verbreiteten. Die Texte konzentrierten sich hauptsächlich auf vier Motive, die bereits aus früheren Kampagnen gegen Antisemitismus bekannt waren: (1) Die Erinnerung an vergangene Gräueltaten (Mittelalter, Inquisition, Pogrome), die verdeutlichen sollte, welche Konsequenzen Hass zeitigen könne, sofern man ihm nicht aktiv entgegentrete; (2) Die systematische und durch Belege gestützte Widerlegung anti-jüdischer Diffamierungen (Weltjudentum, jüdischer Bolschewismus, jüdischer Parasitismus, Ritualmordvorwurf, Verrat etc.); (3) Positive Darstellungen der Beiträge, die Juden über Jahrhunderte hinweg in allen Bereichen (Wissenschaft, Literatur, Wirtschaft, Militär) für die deutsche Gesellschaft geleistet hatten; (4) Die Benennung von Bedrohungen, die der Antisemitismus für das ganze Land (seine Regierungsform, seinen Ruf im Ausland, seine „Seele“) und nicht nur für die Juden darstellte. Insgesamt vereinte die Kampagne humanitäre Argumente („Juden sind menschliche Wesen wie alle anderen auch“) mit utilitaristischen Argumenten („Antisemitische Attacken bedrohen auch die Demokratie Deutschlands“). Sie betonte, dass die Verfolgung der Juden nicht nur ungerecht, sondern auch gefährlich sei. Besondere Aufmerksamkeit schenkte man der anti-rassistischen Erziehung und Aufklärung junger Menschen. Der Centralverein gab seine defensive Haltung zugunsten eines offensiven Ansatzes auf und begann, Informationsmaterial in größeren Auflagen – das, wie man sich vorstellen kann, wenig schmeichelhaft ausfiel – gegen Rassisten im Allgemeinen und Nazis im Besonderen zu veröffentlichen. Die Absicht solcher Publikationen war es, die Nationalsozialisten in der öffentlichen Meinung zu diskreditieren und die Wähler davon abzuhalten, ihnen ihre Stimme zu geben. An dieser Stelle seien nur zwei Titel aus einer ganzen Reihe beeindruckender Veröffentlichungen hervorgehoben, die auch heute noch in einigen deutschen und israelischen Bibliotheken zugänglich sind. Die Anti-Anti-Blätter zur Abwehr waren eine gebundene Sammlung von Broschüren, die, über ein Register erschlossen und einfach zu handhaben, alles Wissenswerte zur sogenannten ‚Judenfrage’ und dem Antisemitismus enthielten. Die Publikation Anti-Nazi war ähnlich aufgebaut, behandelte aber die NSDAP, ihre Führungspersönlichkeiten, ihre Finanzierung, die Lügen ihrer Propaganda, die Gefahr, die sie für Deutschland darstellte usw. Die beiden Sammlungen ergänzten einander und wurden in großem Umfang an Journalisten, Politiker und Lehrer verteilt. Bis 1933 wurden sie regelmäßig neu aufgelegt; die Gesamtzahl der gedruckten Exemplare belief sich auf Hunderttausende.
Der Centralverein beschränkte sich dabei nicht allein auf Publikationen, die unter seinem Namen erschienen und für die er offiziell Verantwortung übernahm. Bestürzt über die Wahlerfolge der Nazis von 1929 baute er ein Aufklärungsnetzwerk auf, das als Büro Wilhelmstraße bezeichnet wurde. Die neue Organisation publizierte unter verschiedenen Namen Anti-Nazi-Broschüren, Traktate, Poster und Zeitschriften, um ihre Urheberschaft zu verbergen. Der Zweck dieser Tarnung bestand darin, die Glaubwürdigkeit der gegen die Nazis adressierten Propaganda zu erhöhen. Zugrunde lag dabei die – recht einleuchtende – Annahme, dass es größeren Eindruck erzielen würde, wenn diese von Nicht-Juden anstatt von Juden verbreitet werde. Erstere konnten sich auf die allgemeine Sorge um die deutsche Demokratie berufen, während letztere sich rasch dem Vorwurf mangelnder Objektivität ausgesetzt sahen, da sie zum Schutz der eigenen Gemeinschaft argumentierten. Diese Methode ermöglichte zudem, die Anti-Rassismus-Aufklärung den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen (Intellektuelle, Arbeiter, Landarbeiter) und politischen Ausrichtungen (links, Mitte, rechts) anzupassen. Büro Wilhelmstraße kooperierte außerdem mit dem sozialdemokratisch dominierten Verteidigungsbund Reichsbanner, dem es große Mengen von Anti-Nazi-Materialien zur Verfügung stellte. Die Ortsvereine des Reichsbanners verteilten diese Materialien in der Bevölkerung. Zudem gab das Büro Wilhelmstraße den Alarm heraus, der bis zum Zusammenbruch der Republik regelmäßig erschien. Diese Zeitschrift, deren Leitartikel einen herausfordernd-kämpferischen Ton anschlugen, veröffentlichte eine große Zahl anti-nationalsozialistischer Karikaturen und attackierte die Nazis mit derselben polemischen Bissigkeit, die diese gegenüber Juden und Demokraten an den Tag legten. Der Alarm bemühte sich auf diese Weise, eine neue Form anti-nationalsozialistischer Agitation zu etablieren und breitenwirksam eine republikanische Gesinnung zu entfachen. Er wurde von einem Team jüdischer Journalisten und Intellektueller geleitet, sowie von einigen Nicht-Juden unterstützt. Darüber hinaus arbeitete das Büro Wilhelmstraße mit einem Informationsbüro zusammen, das eine detaillierte Dokumentation über Struktur und Aktivitäten der Nazis auf lokaler und nationaler Ebene erstellte. Dieses Archiv wurde 1933 verbrannt, um zu verhindern, dass es dem triumphierenden Feind in die Hände fiele.
Naturgemäß wurden jüdische Intellektuelle gedrängt, auf den Versammlungen des Centralvereins zu sprechen, von denen es zwei Formen gab: “Protestversammlungen“, die sich primär an die jüdische Gemeinschaft richteten, und “erläuternde Versammlungen“, die ein nicht-jüdisches Publikum adressierten und zu überzeugen versuchten. Aus der großen Zahl von Berichten, die überliefert sind, möchte ich einige Beispiele herausgreifen.
Im Oktober 1928 organisierte der Centralverein eine beeindruckende Protestversammlung gegen die Profanierung jüdischer Friedhöfe, die seit einigen Jahren stetig zugenommen hatte. Am Rednerpult verlieh der Schriftsteller Julius Bab der Meinung Ausdruck, dass die Profanierungen „ein Symptom für die innere Zersetzung des deutschen Volkes“ seien.
Im Juli 1930 versammelte der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RJF) im Rahmen eines Mobilisierungstreffens gegen die Nazis in Berlin 4000 jüdische Kriegsveteranen. Georg Bernhard, der als einflussreiche Persönlichkeit der Weimarer Presselandschaft als Referent geladen war, verband in seiner Rede zwei Motive heroischer Rhetorik: Die jüngste Leistung Deutschlands (im Ersten Weltkrieg) und den historischen jüdischen Kampf (die Makkabäer gegen die Griechen).
Am 16. Januar 1932 hielt der Centralverein in der Hauptstadt zeitgleich drei Massenversammlungen ab. Einer von ihnen stand der Schriftsteller Bruno Weil vor, der Autor des Buchs „Der Prozeß des Hauptmanns Dreyfus“. Die Resolutionen, die im Rahmen der Versammlungen verabschiedet wurden, spiegelten die Entschlossenheit der deutschen Juden zur Verteidigung ihrer bedrohten Rechte wider.
Die Bandbreite der Bewegung kann anhand einiger Zahlen illustriert werden. In den besonders aktiven Wochen, die den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 vorausgingen, veranstaltete der Centralverein in Bayern 18 Kundgebungen, 19 weitere in der Rheinprovinz und Westfalen sowie 19 in Pommern, sieben in Brandenburg etc. Allein in Berlin wurden zwischen dem 12. und 14. Juli 1932 10 jüdische Versammlungen einberufen.
Die Aufklärungskampagnen vereinten Publikationen und Versammlungen. Im Kontext der Wahlkämpfe, die sich in den letzten Jahren der Weimarer Republik häuften, gingen sie in eine Phase fieberhafter Aktivität über. Die bestehenden Archive gewähren uns Einblick in die Anstrengungen des Centralvereins während der Wahlen vom September 1930. Nachdem der CV mehrere drängende und dramatische Aufrufe an die jüdische Bevölkerung gerichtet hatte, rief er einen Kampffonds ins Leben. Der Betrag, den dieser Fonds sammeln konnte, betrug das 240(!)-fache des Jahresbudgets der französischen LICA (Internationale Liga gegen Antisemitismus). Dieses gewaltige Missverhältnis hinderte Bernard Lecaches Organisation später jedoch nicht daran, den deutschen Juden vorzuwerfen, nichts unternommen zu haben, um den Aufstieg der NSDAP zu stoppen.
Die Intensität der Aktivitäten des CV verdeutlicht auch die Vielzahl der Materialien, die er im August und in der ersten Septemberhälfte des Jahres 1930 in Umlauf brachte. Dies umfasste unter anderem auch die Herausgabe mehrerer Sonderausgaben des Alarm (mehrere Hunderttausend Exemplare), außerdem eine Zeitschrift für rechtsgerichtete Wähler (800 000 Exemplare) sowie Poster, Abzeichen, Flugblätter und Traktate mit Anti-Nazi-Slogans, (mehrere Millionen). Während der Wahlkampagnen im Jahre 1932 wurden ähnliche Zahlen erreicht.
Jüdische Studenten konstituierten die Rekrutierungsbasis des 1927 gegründeten Jüdischen Abwehr Dienstes (JAD). Diese Organisation war einberufen worden, um die Verteidigungseinheiten des Hauptverbandes jüdischer Kriegsveteranen, des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten, zu ergänzen. Sie bildete ihre Mitglieder in Kampfsportarten und Techniken für den Straßenkampf aus und integrierte sie in die allgemeine Verteidigungsaufstellung der deutsch-jüdischen Gemeinschaft. In dieser Funktion bewachten sie Synagogen, jüdische Grundstücke und Gebäude und waren bei Versammlungen des Centralvereins als Saalschutz tätig. Doch natürlich erreichte die Anzahl ihrer Mitglieder nicht die Stärke der SA, die Ende 1930 100 000, 1932 400 000 und 1933 schließlich 1 000 000 Mitglieder zählte.
Während dieses (Un-) Gleichgewicht der Kräfte in den späten 1920er Jahren, als die Nazis nur einen kleinen Teil der deutschen Bevölkerung ausmachten, gerade noch akzeptabel erschien, wurde es zu Beginn der 1930er rasch untragbar. Zwar wurden die Kämpfer des RJF und der JAD ursprünglich von der Berliner Polizei und dem Reichsbanner unterstützt. 1933 fanden sie sich dennoch alleine wieder: Während die Berliner Polizei rasch nazifiziert wurde, löste sich der Reichsbanner ohne Widerstand auf.
Zudem sahen sich jüdische Studenten sogar innerhalb der Universitäten mit Gewalt seitens rassistischer Kommilitonen konfrontiert. Dieses Problem spitzte sich nach 1930 und insbesondere 1932 zu, da die Nazis im studentischen Milieu noch erfolgreicher waren als in der übrigen Bevölkerung. Die jüdischen Studentenorganisationen mussten sich als Selbstschutzgruppen neu formieren; und obwohl sie couragiert kämpften, konnten sie angesichts der enormen zahlenmäßigen Überlegenheit ihrer Gegner auf Dauer keinen effektiven Widerstand leisten.
Insgesamt muss die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die deutschen Juden die Bedrohung durch die Nationalsozialisten äußerst ernst nahmen und ihnen massiven Widerstand entgegensetzten, der gleichermaßen geplant und durchdacht als auch verzweifelt geführt wurde. Die Vernichtung der deutschen Juden war nicht etwa die Folge mangelnder Kampfbereitschaft, sondern resultierte aus der Tatdache, dass sie mit einem übermächtigen Gegner konfrontiert waren. Diese elementare Wahrheit wurde von den jüdischen Gemeinschaften anderer Länder (Polen, Frankreich, USA u.v.a.) nicht erkannt. Im Zuge dessen kam bereits im Frühjahr 1933 der Mythos von der Passivität der deutschen Juden im Angesicht des Hitlerismus auf. Dieser Mythos sollte den Anschein einer unwiderlegbaren Tatsache erwecken, ins kollektive jüdische Bewusstsein eingehen und die zeitgenössische Historiographie prägen.
Der Mythos von der Passivität des deutschen Judentums tauchte in der Zeit der bedeutenden Protestveranstaltungen im März, April, Mai und Juni 1933 auf. Weltweit demonstrierten jüdische Gemeinden gegen den Antisemitismus der Nationalsozialisten; in Reden und Leitartikeln entwickelten jüdische Autoren wiederholt bestimmte Gedanken. Erstens wurde argumentiert, die Juden seien nicht allein; sie würden über den Rückhalt zahlreicher Nicht-Juden verfügen, welche wiederum fest entschlossen seien, die Rückkehr der mittelalterlichen Erniedrigungen zu verhindern. Zweitens wurde betont, dass die Juden weder schwach noch passiv seien, sondern beabsichtigen, ihre Stärke zu nutzen, um ihren deutschen Brüdern zur Hilfe zu kommen. Und ein drittes, weithin aufgegriffenes Motiv erklärte, die Juden hätten sich verändert; sie würden Unterdrückung nicht länger still erleiden, ohne sich zu wehren. „Die Politik der Resignation hat ausgedient“, erklärte Droit de vivre – das Organ der französischen LICA – 1933. Freudig proklamierte sie die Existenz eines neuen jüdischen Typus – Juden, die sich ihrer Rechte bewusst seien und diese auch hartnäckig verteidigen würden. Die kämpferische Rhetorik von 1933 kontrastierte die modernen Juden, die im Falle eines Angriffs nicht zögerten zu kämpfen, mit den angeblich passiven und schicksalsergebenen Juden der Vergangenheit. Um der Metamorphose einen authentischen Anstrich zu verleihen, zeichnete sie das nicht sehr vorteilhafte Bild eines schreckhaften, furchtsamen Juden alter Zeit (verloren im Nebel mittelalterlicher und prä-emanzipatorischer Zeit oder sogar in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts). Auf diese Weise wurde die Verzerrung jüdischer Vergangenheit essentiell für die wichtigsten Anti-Hitler-Proteste von 1933.
Der internationalen jüdischen Öffentlichkeit wurde noch ein weiteres, ebenso negatives Stereotyp auferlegt. Reden, die 1933 in den USA, Frankreich und Polen gehalten wurden, prangerten die Hitlerischen Gräuel an – gleichzeitig verurteilten sie jedoch auch die deutschen Juden. Man warf ihnen vor, in den letzten Jahren der Weimarer Republik nichts unternommen zu haben, um sich den Nazis entgegenzustellen. Mehr als bei vielen anderen jüdischen Führungspersönlichkeiten dieser Zeit ist diese Tendenz bei Stephan Wise erkennbar. Wise forderte eine kämpferische Attitüde gegenüber dem Nazismus, organisierte breitenwirksame Protestveranstaltungen und sprach sich im August 1933 für einen internationalen Boykott deutscher Produkte aus. In seiner Rede vom 27. März in New York rügte er die deutschen Juden, die sich, wie er behauptete, trotz jahrelanger anti-jüdischer Propaganda still verhalten hätten. In einem Artikel der im Mai 1933 mit dem vielsagenden Titel „Ehrenhafte und unehrenhafte Juden“ veröffentlicht wurde spitzte er seine Angriffe zu. In diesem Artikel sprach Wise von der „Degenerierung jener deutschen Juden, deren Trägheit (...) nicht der geringste der Faktoren war, die die Formierung des Nazi-Regimes zugelassen haben.“ Er bekräftigte diese Ansicht im Juni, indem er die deutschen Juden beschuldigte, die Gefahr klein geredet zu haben, anstatt die deutsche Bevölkerung zur Abwehr des Nationalsozialismus zu mobilisieren.
Die Verbreitung dieses Mythos kann anhand struktureller Gegebenheiten erklärt werden. Die deutschen Juden waren geschlagen, und niemand stellt sich gerne auf die Seite der Verlierer. Die große Versuchung besteht vielmehr darin, ihnen zumindest einen Teil der Verantwortung am eigenen Unglück zuzuschreiben. Vor allem aber waren die Juden Deutschlands die Träger einer erschreckenden Warnung, die niemand zu hören bereit war. Sie mobilisierten sehr wohl; sie starteten beeindruckende antirassistische Aufklärungskampagnen – und trotz alledem konnten sie den Sieg der Nationalsozialisten nicht verhindern. Öffentliche Kampagnen erwiesen sich als nutzlos, um den Antisemitismus abzuwenden. Sie konnten die jüdische Bevölkerung nicht schützen.
1933 waren international nur wenige Juden geneigt, derartige Schlussfolgerungen aus der deutschen Katastrophe zu ziehen. Sie wappneten sich, jede Gemeinschaft für sich sowie alle zusammen, den Nazismus zu bekämpfen und sich dem Aufstieg des Antisemitismus zu widersetzen. Wie? Indem sie Rechtsmittel einlegten, die öffentliche Meinung anriefen und Aufklärungsarbeit betrieben sowie, wenn nötig, auf physische Selbstverteidigung zurückgriffen. Dies entsprach jedoch exakt den Instrumenten, derer sich die deutschen Juden vor 1933 massiv und dennoch vergeblich bedient hatten. Das Eingeständnis, dass der Centralverein den Nationalsozialisten organisiert entgegen getreten war, hätte nur Hoffnungslosigkeit in der jüdischen Weltöffentlichkeit gesät, welche die jüdischen Kämpfer doch im Gegenteil mit allen Mitteln aufzurütteln versuchten. In diesem Sinne sollte die Behauptung, dass die deutschen Juden keine Initiative ergriffen hätten, die Bedeutung des Kampfs gegen den Antisemitismus wiederherstellen.
Es handelte sich hierbei nicht allein um ein amerikanisches Phänomen. Das verkürzte Bild vom furchtsamen assimilierten deutschen Juden wurde in allen jüdischen Gemeinschaften, vor allem auch in Polen, reproduziert. Im Laufe der Jahre sollte es die harte Schale ausbilden, die typisch für Mythen ist, und sich tief ins kollektive jüdische Bewusstsein und die jüdische Geschichtsschreibung eingraben. Nach 1933 befanden sich die deutschen Juden selbstverständlich nicht mehr in der Position für Diskussionen und Rechtfertigungen. Sie waren der Nazi-Herrschaft unterworfen und konnten sich – aus einsichtigen Gründen – nicht rühmen, in den Jahren 1930 und 1932 gegen Hitler aufgestanden zu sein. Ihr trauriges Schicksal war es, die Diffamierung der Nazis, Deutschland verraten zu haben, und die Anschuldigung der internationalen jüdischen Öffentlichkeit, das Judentum im Stich gelassen zu haben, zu ertragen.
Im Original veröffentlicht in: Andrea Hoffmann, Utz Jeggle, Reinhard Johler, Martin Ulmer (Hgg.): Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Shoah (= Studien & Materialien des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen; Bd. 30), Tübingen : Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 2006 Übersetzung aus dem Englischen von Miriam Schelp, Praktikanten an der ISHS in Yad Vashem
Dr. Simcha Epstein war Generalsekretär der Zionistischen Vereinigung in Frankreich. Er ließ sich 1974 in Jerusalem nieder und arbeitete im israelischen Finanzministerium. Seit 1982 forschte er über Antisemitismus und Rassismus. 1990 verlieh im die Sorbonne die Doktorwürde und er wurde Direktor des Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism an der Hebräischen Universität Jerusalem.