„Ich persönlich habe gelernt, dass Zeitzeugenberichte eine größere Aussagekraft und emotionale Tiefe haben als Textquellen“
Dorothee Wein
In den vergangenen vier Jahren wurden an der Freien Universität Berlin mehr als vierzig Projekttage durchgeführt, in denen Jugendliche lebensgeschichtliche Video-Interviews mit Überlebenden des Holocaust als zentrale Quelle nutzten. Auch wenn sich nicht alle so elaboriert äußerten wie die in der Überschrift zitierte Schülerin eines Seminarkurses aus Berlin-Zehlendorf, so ziehen doch sehr viele der Schüler(innen) ein vergleichbares Resümee: das Lernen mit den Video-Zeugnissen unterscheide sich wesentlich vom schulischen Unterricht wie sie ihn kennen und habe ihr Wissen um die nationalsozialistische Verfolgung auf eine andere Grundlage gestellt. Besonders hervorgehoben wird dabei, dass sie erst durch den Bericht über das prekäre Überleben eines Einzelnen die Dimensionen des Holocaust besser verstehen könnten.
Ein lebensgeschichtliches Video-Interview ist ein einzigartiges und persönliches Dokument. Durch den sich erinnernden und sichtbaren Menschen bergen die Interviews ein hohes Potenzial für gegenwärtiges und zukünftiges historisches Lernen.
Dabei sollte selbstverständlich sein, dass die Arbeit mit einem Video-Interview lediglich an vereinzelten Punkten mit der tatsächlichen Begegnung und dem Gespräch mit einem oder einer Überlebenden des Holocaust verglichen werden kann. Leider wurde in Deutschland die Möglichkeit einer persönlichen Begegnung nicht in dem Maße genutzt, wie es wünschenswert gewesen wäre. Die meisten Jugendlichen haben noch nie an einem solchen Gespräch teilgenommen. Die videografierten Lebenserinnerungen bilden auch in dieser Hinsicht ein Vermächtnis. In der Entwicklung von respektvollen Formen des Umgangs mit diesen Dokumenten liegt daher eine der wichtigsten Aufgaben für künftiges historisches Lernen. Das Projekt „Zeugen der Shoah“ gibt dazu keine letztgültigen Antworten, sondern hat Ansätze aus einer gegenwärtigen in Berlin verorteten Perspektive erprobt und in einer DVD-Reihe, die im Frühjahr 2012 erscheint, umgesetzt. Einige Erfahrungen sollen hier kurz umrissen werden.
Ermöglicht wurde das didaktische Projekt durch den an der Freien Universität angesiedelten Vollzugang zum Visual History Archive des USC Shoah Foundation Institute for Visual History and Education. Das Projekt „Zeugen der Shoah. Das Visual History Archive an den Schulen“ bot den Rahmen sowohl für die Erprobung didaktischer Zugänge, Methoden und Themen als auch für die Arbeit mit sehr vielen unterschiedlichen Interviews des Archivs, das in seiner Gesamtheit nicht weniger als 52.000 Video-Zeugnisse umfasst. Ein Kriterium für die Auswahl der verwendeten Interviews waren lebensweltliche Bezüge zu den Lernenden: Die vielfach aus Berlin stammenden Überlebenden berichten u.a. über Erfahrungen, die sie in einem dem der Lernenden vergleichbaren Alter machten.
Viel scheint davon abzuhängen, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Art und Weise die Begegnungen mit den videografierten Lebensberichten stattfinden. Zu nennen sind hier der inhaltliche Rahmen, die benötigte Zeit, aber beispielsweise auch der Raum dafür, dass die Jugendlichen ihre Gedanken, Gefühle und Irritationen äußern und in die Diskussionen einbringen können.
Lebensgeschichtliches Erzählen
Fast alle Jugendlichen, die zu den Projekttagen an die Freie Universität kamen, kannten Zeitzeugen-Interviews nur in Form von kurzen Ausschnitten. Solche ein- bis dreiminütigen Clips sind flexibel einsetzbar: vor allem in Fernsehdokumentationen, aber auch in Ausstellungen oder Bildungsmaterialien. Diese Clips fungieren dabei als eine Art Mosaikstein, der manchmal durch biografische Kurzinformationen ergänzt wird, meistens aber in eine Gesamterzählung eingebettet ist, die thematisch und nicht autobiographisch ausgerichtet ist.
Oft entspricht der Clip einem Erzählzusammenhang, der über einen für die Zuhörenden nachvollziehbaren Anfang und über ein Ende verfügt. Welche Geschichte oder Fragen sich daran anschließen oder dem Gesagten vorausgehen, erfährt der Lernende nicht. Der gewählte Ausschnitt eines Interviews soll bestehende Leerstellen füllen und dem behandelten historischen Kontext eine persönliche Note geben. Der lebensgeschichtliche Zusammenhang, der Fortgang der Erzählung sowie deren Form als Interview gehen dadurch in der Regel verloren.
Bei den Originalquellen handelt es sich meist um mehrstündige Interviews, die die ganze Lebensgeschichte umfassen. Das gilt bei allen methodischen Unterschieden für den Bestand des „Shoah Foundation Institute“, für das ältere „Fortunoff Archive“ oder das jüngere Archiv „Zwangsarbeit 1939 – 1945. Erinnerungen und Geschichte“: Angefangen von der Kindheit, über die Verfolgung, bis in die gegenwärtige Zeit der Interviewführung reichen die Erzählungen. Dabei ist deren Verlauf keineswegs immer linear.
Im Projekt „Zeugen der Shoah“ ging es darum, einigen dieser Quellen mit ihren medialen und inhaltlichen Eigenarten möglichst nahe zu kommen. Die Jugendlichen sollten sich das Besondere des jeweiligen Interviews zwar angeleitet, aber selbst forschend erschließen. Daher wurden Ansätze entwickelt, die die Verwendung von kurzen Clips mit der von längeren Passagen bis hin zu ganzen Videozeugnissen koppeln.
Nach einer historischen Kontextualisierung wurden dazu aus etwa sechs Interviews Ausschnitte gezeigt, die sich um ein gemeinsames Thema gruppieren. Die unterschiedlichen Projekttage waren: „Antisemitismus an Berliner Schulen“, „Zeugen der Novemberpogrome in Berlin“, „Formen von Widerstand“, „Erinnern an Theresienstadt“ und die stärker deutschdidaktisch ausgerichteten Themen: „Wie wirken die Videozeugnisse?“ und „Sprechen über Auschwitz“.
In einer Erarbeitungsphase wurden u.a. die Handlungsspielräume bzw. „choiceless choices“ der in den unterschiedlichen Erzählungen präsenten Akteure ausgelotet. Der Schritt vom thematischen zum biografischen Zugang erfolgt, indem die Jugendlichen eines der angespielten Interviews auswählen, mit dem sie sich anschließend intensiv beschäftigen.
„Emotionalität“ – Vom Umgang mit den Gefühlen
Bei den Ergebnissen bekommen neben den biografischen Rekonstruktionen der Lebensgeschichten die Deutungen der Jugendlichen selbst Raum, indem sie zeigen, inwiefern die Erzählungen für sie persönlich bedeutungsvoll geworden sind.
In mehrtägigen Projekten entwickelten die Jugendlichen Konzepte für einen Kurzfilm auf der Basis eines Interviews, den sie in Folge mit einem einfachen Schnittprogramm umsetzten. Entscheidend waren die Themenschwerpunkte, die Zwischentitel und die Einleitung der Kurzfilme durch die Schüler(innen) innerhalb der Lerngruppe.
Vor allem die Teilnehmenden aus den neunten und zehnten Jahrgangsstufen gaben bei der Präsentation ihrer Filme häufig an, dass sie die „emotionalsten“ Ausschnitte der Interviews für ihren Kurzfilm ausgewählt hätten. Gleichzeitig zeigten sie sich in den Diskussionen irritiert von einer vermeintlich „fehlenden“ Emotionalität der Interviewten.
In der Wahrnehmung des Grades der „Emotionalität“ eines Überlebenden kam eine enttäuschte Erwartungshaltung zum Ausdruck, die mit Zeitzeugen als Lieferanten von ausagierten Gefühlen rechnet.
Andererseits zeugte das Urteil der Schüler(innen) mitunter von einem erstaunlichen Maß an Distanz gegenüber den Erinnerungen der Interviewten. So war auffällig, dass die Jugendlichen zunächst nur sehr selten von ihren eigenen Gefühlen sprachen. Für Lehrende ist dabei wichtig, zu beachten, dass die gefühlsmäßigen Reaktionen auf die Video-Interviews sehr unterschiedlich sein können. Die Tatsache, dass es sich bei den Interviewten häufig um schwersttraumatisierte Menschen handelt, wirkt in ihre Erzählung hinein: Das eigentliche Trauma kann oft nicht erzählt werden, sondern wird im Zuge des psychischen Selbsterhalts eingekapselt, was zu gefühlsmäßigen Abspaltungen führen kann. Dessen wird sich der Betrachter des Interviews nicht unbedingt bewusst, aber es kann sich in Form von Gegenreaktionen auf ihn auswirken. Man kann die Jugendlichen im vorbereitenden Gespräch darauf hinweisen, dass sie ihre eigene Reaktion auf das Interview beobachten und ebenfalls in ihre Forschung mit einbeziehen sollen. Als weiterführend hat es sich in diesem Zusammenhang außerdem erwiesen, die Schüler(innen) auf die Unterschiedlichkeit ihrer Wahrnehmung von derselben Erzählung hinzuweisen. Dadurch kann der eigene Anteil an der Wahrnehmung erkannt und damit eine Annäherung an die für manche/n offenbar schwierige Frage erzielt werden, welche Reaktion das Interview bei ihr/ihm selbst auslöst.
Sehnsucht nach einer ,positiven’ Wendung der Geschichte
In einigen Fällen ließ sich beobachten, dass Jugendliche Ausschnitte wählten, die Mitwirkende und Täter(innen) entlasten und das Grauen der geschilderten Erfahrungen abmildern. Das gilt auch für Schilderungen über Konzentrationslager und Ghettos. Auch folgten die Schüler(innen) vermutlich oft unreflektiert ihren Sehgewohnheiten, wenn sie Filme nach Spielfilmmanier mit happy endings versahen. Gleichzeitig zeigte sich darin das Bedürfnis mancher Jugendlicher, der Geschichte (der Shoah) eine positive Wendung zu geben.
Perspektivität
Bemerkenswert ist gleichzeitig, dass sich einige Schüler(innen) eigenständig darum bemühten, filmische Wege zu finden, um mit der Wirklichkeit der Shoah umzugehen. Zwei sehr unterschiedliche Schülerergebnisse verdeutlichen, wie ergiebig die Arbeit über ein und dasselbe Video-Interview sein kann: sie wurden in einer zwölften Jahrgangsstufe über das Interview mit Aron Bell, der als einer der Bielski-Brüder im Partisanenwiderstand überlebt hat, konzipiert. Der erste Film trägt den Titel Die toten Zeugen der Familie Bell und konzentriert sich nach Angaben der Verfasser auf die „individuellen Aspekte“ der Ermordung seiner Eltern und Geschwister. Die 17- bis 19-jährigen Jugendlichen rücken damit Schmerz und Trauer in den Mittelpunkt. Der alternative Schülerfilm Bielski Partisans rekonstruiert aus dem Interview die Geschichte der Partisanengruppe, die sich um die Bielski-Brüder nach ihrer Flucht in die Wälder des heutigen Weißrusslands bildete. Diese grundsätzlich unterschiedliche Schwerpunktsetzung ist ein gutes Beispiel für individuelle narrative Sinnbildung durch die Schüler(innen) und veranschaulicht inhaltlich die Spannung zwischen der von Aron Bell zum Ausdruck gebrachten Ohnmacht, dem Leid und der Motivation zum Widerstand.
Für ein solches Projektformat, bei dem Jugendliche eigene Kurzfilme produzieren, ist von Bedeutung, dass die Ergebnisse nicht am Ende stehen bleiben, sondern genügend Zeit bleibt, um diese zu reflektieren. In jedem Fall sollten Formen gefunden werden, in denen die Jugendlichen ihre Auseinandersetzung zu einem sichtbaren Ergebnis bringen können.
Quellenanalyse
Auch auf der Grundlage der genannten Erfahrungen ist deutlich geworden, dass der Quellenanalyse eine besondere Bedeutung zukommt. Als Methode hat sich das wiederholte Sehen/Hören eines längeren Interviewausschnitts bewährt. Dabei erarbeiten die Teilnehmenden jeweils unterschiedliche Dimensionen der Erinnerungsberichte: Den Inhalt, die Erzählformen, alles was sich jenseits der Sprache ausdrückt, sowie die Besonderheiten des Mediums und nicht zuletzt die Wirkung der Interviews und das eigene Rezeptionsverhalten (Worauf achte ich? Was fällt mir besonders auf?).
Im Verlauf der gesamten Erzählung des Interviews können Motive herausgearbeitet werden, die immer wieder auftauchen. Auch lassen sich die Interviewführung, ihr Einfluss auf die Erzählung sowie das Verhältnis zwischen Erzählendem und Fragendem dann besser beurteilen. Die Jugendlichen beobachten genau und benennen, was sie ggf. anders gemacht oder gerne noch gefragt hätten. Auf diese Weise treten sie in eine vermittelte Beziehung zu dem oder der Interviewten.
Durch die Einsicht in den Entstehungsprozess des Interviews, in das Setting des Interviews und seine Medialität überdenken die Lernenden das Interview und entwickeln eine Form reflektierter Empathie.
Als Fazit kann festgehalten werden, dass Schülerinnen und Schüler erstaunlich gut mit ungeschnittenen Video-Interviews zurechtkommen und sich für die gesamte Lebensgeschichte der Überlebenden interessieren. Nichtsdestotrotz erfordert die Arbeit mit ungeschnittenen Video-Interviews viel Vorbereitungszeit von Seiten der Lehrenden und ganze Projekttage zur Durchführung.
Für die neu entwickelte DVD-Reihe „Zeugen der Shoah“ sind daher aus zwölf Video-Interviews halbstündige Interviewkurzfilme erarbeitet worden, die den lebensgeschichtlichen Bogen des Gesamtinterviews beibehalten. Unter den Titeln „Widerstehen“, „Fliehen“, „Überleben“, „Weiterleben“ stehen jeweils drei Interviewkurzfilme im Mittelpunkt der interaktiven Lernsoftware. Die DVD rückt die Fragen ins Zentrum, die uns heute für eine Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler relevant erscheinen. Sie lässt darüber hinaus bei jedem Interviewkurzfilm Platz für eine eigene Aufgabenstellung. Den Rückgriff auf die ungeschnittenen Videozeugnisse wird künftig das Online-Archiv „Zeugen der Shoah“ möglich machen. Dort können die Nutzer(innen) der DVD den Schnitt der Interviewkurzfilme nachvollziehen oder sich aus Interesse an der Person und ihrer Erzählung auf ein anderthalb bis dreistündiges Interview einlassen. Das Online-Archiv ermöglicht es darüber hinaus, weitere Interviews für die didaktische Arbeit zu entdecken und mit eigenen und immer neuen Fragestellungen forschend zu lernen.
Das Lernen mit Videozeugnissen erfordert Zeit, aber die Jugendlichen begegnen ihnen mit großer Aufmerksamkeit und entwickeln eigene Zugänge. Wenn viele der Teilnehmenden betonen, dass sie durch diese Quellen zum ersten Mal begriffen haben, welche Dimensionen die nationalsozialistische Verfolgung hatte, und was sie für einzelne Überlebende bedeutete, dann unterstreicht dieser Befund die zukünftige Bedeutung eines Lernens mit diesen einzigartigen Dokumenten.
Dorothee Wein arbeitet im Bereich Multimediale Archive am Center für digitale Systeme der Freien Universität Berlin (CeDiS). Sie konzipierte für die Gedenkstätte Sachsenhausen Teile der letzten Dauerausstellungen und publizierte über späte KZ-Außenlager in Baden Württemberg sowie über Erinnerungsabwehr und den sekundären Antisemitismus nach 1945.