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Aharon Appelfeld
„Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“
Aus dem Hebräischen von Miriam Pressler
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012
288 Seiten
19,95 €
Aharon Appelfeld, israelischer Schriftsteller und Überlebender des Holocaust, war acht Jahre als, als er seinen Geburtsort in der Nähe von Czernowitz verlassen musste, nachdem seine Mutter von rumänischen Soldaten ermordet worden war. Mit seinem Vater musste sich Appelfeld auf eine Odysee durch verschiedene Lager und Ghettos begeben, bevor er nach der Befreiung in einem Displaced Persons Lager in Italien strandete, von wo er in das heutige Israel einwanderte. Appelfelds Muttersprache war Deutsch. Mit seinen Großeltern sprach er Yiddisch. Seine Nachbarn sprachen mit ihm Ukrainisch. Die Amtssprache der Regierung war Rumänisch. Appelfeld besuchte nur ein Jahr die Schule. Dann zerbrach seine Welt. Ohne Bildung, ohne eine richtig erlernte Sprache, in der sich seine Erfahrungen ausdrücken ließen, kam er 1946 nach Israel.
An dieser Grenze zwischen der alten Welt in Europa und der neuen Welt in Israel, beginnt Appelfelds 2010 erstmals in Hebräisch erschienener und nun auf Deutsch übersetzter autobiographischer Roman „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“. Grenzen und Grenzbereiche sind die Handlungsorte dieses Buches, das auf kunstvolle Weise die persönlichen Erfahrungen des Autors und die Entstehungsgeschichte Israels mit Reflexionen über die Möglichkeiten und Grenzen sprachlichen Ausdrucks und literaturgeschichtlichen Verweisen verbindet. Die Erzählung folgt dem Weg des jungen jüdischen Flüchtlings Erwin, aus dem Flüchtlingslager über ein zionistisches Ausbildungslager, die illegale Überfahrt nach Palästina und ein britisches Internierungscamp bis zur landwirtschaftlichen und militärischen Ausbildung, dem verletzungsbedingten Aufenthalt in einem Krankenhaus während des Unabhängigkeitstages und schließlich in die erste eigene Wohnung in Tel Aviv. Diese chronologische Handlungsline, die Appelfeld nicht in einen Spannungsbogen presst, sondern vielmehr in mehr oder weniger detailreichen Beobachtungen vorbeiziehen lässt, wird immer wieder durch Rückblicke des Protagonisten durchbrochen, die größtenteils in Form von Träumen in die Handlung eingewoben sind. Nach dem Krieg fiel Erwin in einen tiefen Schlaf und nur langsam gelingt es ihm, diesem Zustand des nach der Katastrophe stillgestellten Geschichtsverlaufs wieder zu entkommen und ins Leben zurückzufinden. Dies gelingt ihm mit Hilfe der Vorbereitung auf Palästina. Doch während er sukzessive zum neuen Hebräer wird, droht ihm seine Vergangenheit zu entgleiten, denn mit der Einwanderung nach Israel soll er sein früheres Leben vergessen und nur noch in die Zukunft blicken.
In seinen Träumen jedoch, angesichts von Appelfelds wunderbarer sprachlicher Ausformung dieser inneren Welten sollte man aber genauer von Visionen sprechen, begibt sich Erwin, der in Palästina zu Aharon wird, in ein Zwiegespräch mit den Verstorbenen und Ermordeten, mit seiner Mutter und seinem Vater, seinen Onkeln, seinen Großeltern und seinem Ur-Großvater, einem angesehenen Rabbiner. In diesen Visionen entstehen Bilder einer verlorenen Welt, die durch den Autor sprachlich evoziert wird. Obwohl bzw. weil Träume jedoch nicht sprachlich organisiert sind, ist es bei Appelfeld weniger der beschreibende Ausdruck, als vielmehr die literarische Form, die diese Visionen in ein anregendes Spannungsverhältnis zum nüchtern beschreibenden Charakter der äußeren Handlung bringen. Teilweise lesen sich die Traumsequenzen daher wie Szenen einer Kafkaerzählung. Bis in den Gestus der Sprache hinein, adaptiert Appelfeld die Absurdität von Kafkas Welten, die doch die Verrücktheit der realen erst richtig zum Ausdruck bringt. Verflochten wird dieser Stil auch mit der Handlung des Buches, denn Erwins Vater wollte immer Schriftsteller werden, wobei ihm dabei kein Erfolg vergönnt war.
Kafka empfand er als „Bruder im Geiste“ und in der Erinnerung seines Sohnes erklärt der Vater, Kafka habe „die Fesseln im Sturm zerbrochen“. Genauso müsse man „heutzutage schreiben“ (S. 198). Doch erst viel später im Krankenhaus, fast schon am Ende des Romans, wird auch Erwin selbst eine Erzählung von Kafka („Der Landarzt“) lesen und den Anfang der Kurzgeschichte abschreiben: „In den Pelz gepackt, die Instrumententasche in der Hand, stand ich reisefertig schon auf dem Hofe; aber das Pferd fehlte, das Pferd. Mein eigenes Pferd war in der letzten Nacht, infolge der Überanstrengung in diesem eisigen Winter verendet.“ (S. 222)
Etwas fehlt. Es ist die Vergangenheit, die verschwunden ist, die andere Welt, die scheinbar dem Aufbau einer neuen Zukunft entgegensteht. Appelfeld versucht im Schreiben diese Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, von Israel und der Diaspora herzustellen. Wie sein Protagonist sucht er nach der Verbindung zweier Welten. Interessanterweise gelingt Erwin dieser Zugang zur verlorenen Vergangenheit gerade durch das, was ihn am meisten von ihr zu trennen scheint. „Meine Muttersprache ging mir allmählich verloren, und die hebräischen Wörter tauchten in mich ein, erweiterten meine innere Welt und verbanden mich mit dem Boden und den Bäumen. Es gab keinen Zweifel mehr: Mein früheres Leben würde verschwinden“ (S. 64). Doch letztlich ist es gerade die neue Sprache, die ihm die Verbindung zur alten Welt ermöglicht. Durch eine Kriegsverletzung ans Bett gefesselt, beginnt Erwin, der den Namen von Moses Bruder Aharon, dem „Mund“ des Moses, trägt, die Bibel abzuschreiben und eignet sich auf diese Weise deren Sprache an. Auch Appelfeld lässt die Sprache des Tanach in die Form seines Buches einfließen, besonders deutlich in der Nüchternheit der beschreibenden Sprache, der wie es im Roman heißt "Sprache dieser Berge, wortkarg und schnörkellos.“ (S. 81). Daneben webt Appelfeld aber auch die Melodie chassidischer Erzählungen in manche der Visionen seines Protagonisten und markiert dies wiederum mit dem Verweis auf den neuhebräischen Dichter Samuel Josef Agnon, der aus dem religiösen, dem traditionellen und dem neuen Hebräisch eine neue poetische Ausdrucksform erschuf: „Ich las es, und meine Hände zitterten. Was für eine Ruhe, wie bei der Eröffnung einer Lade, und jedes Wort wie auserwählt, so einfach und doch etwas Besonderes“, beschreibt der Protagonist sein Empfinden beim Lesen von Agnons Erzählung „In der Blüte ihrer Jahre“ (S. 184). Und dann ist da noch die brüchige Sprache der Flüchtlinge: „Sie sprachen Hebräisch, aber der Klang, die Art, wie sie die Worte zusammenfügten, erinnerte mich an die Menschen, denen ich während meiner früheren Metamorphosen begegnet war, zu Hause und im Ghetto. [...] Ihr Hebräisch war nicht das, was hier gesprochen wurde, sondern brachte alle Orte mit, an denen sie gewesen waren.“ (S. 200)Die neue Sprache, die eigentlich eine uralte ist, speichert die Erfahrungen und trägt in ihrer Form den spezifischen Ausdruck mit sich. So wird die fremde Sprache, das Hebräische, für Erwin zum Schlüssel zur anderen, verlorenen Welt. Seine fast teilnahmslose Suche, immer unterbrochen von Momenten des Stillstands im Schlaf, kommt vollständig zum Stehen, als er mit gelähmten Beinen im Krankenhaus ans Bett gefesselt ist. Nun beginnen sich die Erinnerungsfragmente und Gedankenfetzen zu ordnen und die Sprache sich ihrer zu ermächtigen. Erwins Genesung und das Finden eines sprachlichen Ausdrucks entwickeln sich von nun an parallel. Ohne tatsächlich ein klares und eindeutiges Bild zu schaffen, löst der Roman damit auch etwas von dem ein, was der Protagonist zuvor angesichts seiner Traumbilder und Visionen als Aufgabe definiert hatte: „Bilder aus dem Krieg und der Zeit danach zogen an mir vorbei. Sie hatten keinen sinnvollen Zusammenhang, und ich fragte mich, was sie mir zeigen wollten und wozu sie gut waren, fand aber keine Antwort. Am Ende sagte ich mir: es ist meine Aufgabe, sie zusammenzufügen und ihre Bedeutung herauszufinden.“ (S. 127)
Am Ende des Romans kann sich der Protagonist dieser Aufgabe stellen. Im Schreiben kehrt er an die Orte seiner Kindheit und zu den verlorenen Eltern zurück. Der weitere Weg bleibt offen. Er führt nicht aus Israel zurück in die verlorene Heimat: „Bleib vorläufig da, wo du bist, und laß die fernen Orte zu dir kommen“, bittet die Mutter ihren Sohn in dessen letztem Traum. Appelfelds Schreiben ist die Verbindung dieser Welten in einer Sprache, die beiden auf je spezifische Weise angehört. Das Hebräische, die Sprache, die das Deutsche und all die anderen Sprachen der Kindheit verdrängt hat, ist die einzige Form, das Erfahrene auszudrücken, gerade weil sie gelernt, angeeignet und darin selbst erfahren werden musste. „Ich weiß was ein Flüchtling ist, denn ich bin ein Flüchtling“, so Appelfeld in einem Interview. „Ich weiß, was es bedeutet, zwei Sprachen zu haben, denn ich habe zwei Sprachen...“. In seinem Roman hat Appelfeld die Transformation des Flüchtlings in einen Schriftsteller beschrieben, der die Verbindung zu einer anderen Welt aufrecht erhält und darin gleichzeitig zum Historiker wie zum Propheten wird: „An dem Moment, als ich wieder eine Vebindung zu meinen Eltern aufnehmen konnte, wurde ich zum Schriftsteller“, beschrieb Appelfeld einmal seinen Werdegang. Diesem Moment hat er in „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“ Ausdruck gegeben. Appelfelds Roman ist ein anregendes Beispiel für eine gelungene Bearbeitung und Verdichtung von persönlicher Geschichte und Zeitgeschichte. Einerseits Ausdruck seiner Erfahrungen als Flüchtling in Palästina und Israel, kristallisiert sich darin auch das Panorama der zionistischen Geschichte bis zur Staatsgründung. Die zahlreichen Bezüge zu jüdischer Religion und Tradition machen das Buch aber nicht nur für den Geschichts- oder Sozialkundeunterricht interessant. Auch für die Beschäftigung mit jüdischer Religionsgeschichte lassen sich interessante Anregungen finden, insbesondere was die Verbindung von Tradition und Moderne angeht. Schließlich aber bildet das Buch vor allem eine anregende Form, um über Literatur, Sprache und die Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens nachzudenken. In einer Unterrichtseinheit über Kafka oder Celan wäre ein Seitenblick auf Appelfelds schriftstellerische Selbstreflexion vielleicht eine anregende Perspektiverweiterung.
Tobias Ebbrecht ist Film- und Medienwissenschaftler und Autor der Studie "Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust" (Bielefeld 2011). Derzeit ist er Forschungsstipendiat am International Institute for Holocaust Research Yad Vashem und forscht über Archivfilme aus der Zeit des Holocaust.
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