Uriel Kashi
Das Wirken jüdischer Studierendenverbände in Deutschland wurde in der bisherigen Geschichtsschreibung weitgehend vernachlässigt. Selbst in Monografien oder Sammelbänden zu jüdischem Leben in Deutschland nach 1945 finden sie kaum oder gar keine Erwähnung.
Dabei war die Neugründung jüdischer Studentenvereinigungen nach 1945 keine Selbstverständlichkeit. Von den ca. 500.000 Juden, die vor 1933 in Deutschland lebten, war etwas mehr als der Hälfte rechtzeitig die Flucht ins Ausland gelungen. Über 165.000 Juden aus Deutschland wurden im Verlauf der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ermordet. Nur knapp 15.000 überlebten den Holocaust in Deutschland außerhalb der KZs, davon ungefähr drei Viertel dank ihrer nichtjüdischen Ehepartner. Etwa 2000 überlebten in der Illegalität. Außerhalb Deutschlands war man sich in der jüdischen Gemeinschaft einig, dass jüdisches Leben in Deutschland keinen Platz mehr haben dürfe. Der Journalist Robert Weltsch schrieb nach einem Besuch in Deutschland 1946:
„Wir können nicht annehmen, dass es Juden gibt, die sich nach Deutschland hingezogen fühlen. Hier riecht es nach Leichen, nach Gaskammern und nach Folterzellen. Aber tatsächlich leben heute noch ein paar Tausend in Deutschland [...] Das ist ein Übergangszustand, wie wir verstehen. Dieser Rest jüdischer Siedlung soll so schnell wie möglich liquidiert werden [...] Deutschland ist kein Boden für Juden.“
Auch der jüdische Weltkongress erklärte 1948, kein Jude werde Deutschland je wieder betreten. Zahlreiche zionistische Organisationen duldeten auf ihren Kongressen keine deutschen Vertreter.
Dennoch gründeten sich kurz nach Kriegsende in Deutschland die ersten jüdischen Studentenverbände. Als Beispiel mag hier der Ichud ha-studentim ha-jehudim schel scheerit ha-plejta, zu Deutsch der Jüdische Studentenverband der Überlebenden, in München genannt werden, der ab 1946/47 seinen ca. 500 studentischen Mitgliedern durch Dienstleistungen, wie der Hilfe bei der Wohnraumbeschaffung, behilflich war.
Die meisten der Studenten waren als Resultat des nationalsozialistischen Mordens Waisen und hatten keine Familien mehr. Freundschaftliche Kontakte zu „Deutschen“ hatten die jüdischen Studenten bis in die 60er und 70er Jahre kaum und der größte Teil des gesellschaftlichen Lebens fand in den Studentenverbänden selbst statt. Wegen der Geburtenausfälle während des Zweiten Weltkrieges und insbesondere nach der großen Auswanderungswelle Anfang der 50er Jahre lösten sich die meisten dieser Studentenverbände auf.
Gleichzeitig waren mittlerweile zahlreiche jüdische Gemeinden in Deutschland entstanden. Hans Jakob Ginsburg schreibt hierzu:
„Die bewusste Entscheidung zur Fortsetzung und Neugründung jüdischer Existenz in Deutschland hat gewöhnlich weder auf individueller noch auf kollektiver Ebene je stattgefunden; die meisten Mitglieder der jüdischen Nachkriegsgemeinden sprechen davon, daß es sich in ihrem Fall „so ergeben habe“, und ihre Gemeinden schufen sich zwar Einrichtungen vom Kindergarten bis zum Altersheim, die den Willen zu kontinuierlichem Bestehen anzeigten – programmatische Äußerungen entsprechender Art waren jedoch lange Zeit kaum zu hören, viel seltener jedenfalls als das Bekenntnis zur wünschenswerten Auswanderung der jüngeren Juden nach Israel und das Eingeständnis, die eigene Präsenz auf deutschem Boden sei vorläufig.“
Leben und Aufzuwachsen in Deutschland, unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges, empfanden junge Jüdinnen und Juden nicht als Selbstverständlichkeit. Zu tief war die Abneigung und Furcht insbesondere der Elterngeneration gegenüber Deutschland, als dass sie keine Spuren in der zweiten Generation hinterlassen hätte.
Die heutige Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin Cilly Kugelmann, die Anfang der 70er Jahre in Frankfurt studierte, formuliert den Umgang ihrer Eltern mit deren deutscher Umgebung folgendermaßen:
„Meine Eltern, lebten hier, hatten aber keinen Kontakt zu Deutschen. Meine Eltern hatten überhaupt keine deutschen Freunde. Es war ein Problem für mich, deutsche Schulkameraden nach Hause einzuladen. [...] in anderen Familien war es ähnlich. Beziehungen zu Deutschen hieß auch immer, die Eltern zu verraten.“
Auch Ellen aus München berichtet von ähnlichen Erfahrungen:
„Meine Eltern hatten eine völlige Trennung zwischen der Innen- und Außenwelt. Die Innenwelt war die jüdische, die Familie, Freunde, die Außenwelt - das war da, wo man zum Arbeiten hinging, wo man sich zurecht finden musste unter Leuten, denen man nicht vertrauen konnte, die man fürchtete, die man zum Teil auch verachtete“.
Eine Veränderung brachten ganz allmählich die neugegründeten Studierendenverbände Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre. Ähnlich wie sich die jüdischen Gemeinden in ihrer Struktur und Zusammensetzung voneinander unterschieden, galt dies natürlich auch für die studentischen Organisationen. So wiesen Verbände in den ehemals britischen Besatzungszonen einen viel höheren Prozentsatz an Juden deutscher Herkunft auf als die Gemeinden in der ehemals amerikanischen Zone. In der 1963 gegründeten Jüdische Studentenvereinigung Heidelberg (JSH) spielte z.B. die starke Präsenz der amerikanischen Armee eine entscheidende Rolle. Viele Mitglieder des Heidelberger Verbandes rekrutierten sich aus den Kindern der jüdischen US-Soldaten. Die restlichen zwischen 1938 und 1948 geborenen Mitglieder des Studentenverbands hatten kaum eigene Erinnerungen an das jüdische Leben in Deutschland vor dem zweiten Weltkrieg. Sie waren Nachkommen von ehemals aus Deutschland vertriebenen Juden, wurden jedoch selbst bereits außerhalb Deutschlands geboren. Ihre frühe Kindheit erlebten sie im Exil, die NS-Verfolgung kannten sie hauptsächlich aus Erzählungen ihrer Eltern.
In den Studentenverbänden thematisierten viele Studenten erstmals die zunehmend empfundene „Unehrlichkeit“, die sowohl auf christlich-deutscher wie auf jüdischer Seite den Alltag prägte. Auf jüdischer Seite sah man einen vehementen Widerspruch zwischen den Worten und den Taten der Elterngeneration. Einerseits wollten sie Deutschland nicht als neue Heimat akzeptieren, saßen angeblich auf „gepackten Koffern“. Gleichzeitig gab es kaum ernsthafte Bestrebungen, Deutschland tatsächlich den Rücken zu kehren.
Während des Gründungstreffens des Bundesverbands Jüdischer Studenten in Deutschland (BJSD) 1968 hielt das spätere Vorstandsmitglied Benjamin Korn einen Vortrag, in welchem er die Studenten aufrief, sich von der „jüdischen Identität der Diaspora als Zwangsgemeinschaft“ zu verabschieden und stattdessen ein „neues jüdisches Selbstbewusstsein“ zu entwickeln und der „psychologisch verheerenden und die Problematik vereinfachenden Alternative von Auswanderung oder Assimilation“ zu entgehen.
Georg Heuberger, Gründungsmitglied und seinerzeit 1. Vorsitzender des BJSD, formulierte seine Position zum damaligen Diskurs folgendermaßen:
„Ich hab’ damals schon diese [...] Liquidationspolitik in den jüdischen Gemeinden sehr stark kritisiert und habe gesagt: Wenn ihr nicht an eure eigene Jugend glaubt [...], wenn ihr der Meinung seid, alles müsse nach Israel, dann habt ihr doch selbst keine Zukunft in Deutschland. [...] Ich war nicht gegen Israel, ich war nicht dagegen, dass wir auch ein Zentrum als Juden, ein Zentrum im Staat Israel haben, ich hab’ nur gesagt: Die ausschließliche Erziehung junger Leute mit dem Ziel, nach Israel auszuwandern, ist falsch.“
In den 60er Jahren entwickelte sich demnach durchaus das Bestreben jüdisches Leben in Deutschland selbstverständlich werden zu lassen. Dennoch setzte man sich mit den nach wie vor latenten antisemitischen Einstellungen innerhalb der deutschen Bevölkerung auseinander und thematisierte insbesondere deren fehlende Sensibilität im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.
Gerade in der studentischen Linken der 60er und 70er Jahre entpuppte sich Gesellschaftskritik oft als Versuch, sich der Verantwortung des nationalsozialistischen Erbes zu entziehen und dem unterbewusst noch immer existenten antisemitischen Gedankengut zu frönen. Viele jüdische Studenten, die in den linken Studentenbewegungen eine Heimat suchten, distanzierten sich nach einiger Zeit wieder von ihnen. Eine Identifikation mit Deutschland machten diese Erfahrungen umso schwieriger.
Die ständige Beschäftigung mit der eigenen Positionierung in dieser Welt der Widersprüche blieb über viele Jahre Thema in den jüdischen Studentenverbänden. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Leit(d)kultur, der zionistischen Ideologie und mit dem Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft blieben ebenso Thema wie der Versuch einer Analyse der eigenen ambivalenten Gefühle gegenüber der „deutschen“ Gesellschaft und der Frage nach einer möglichen Integration. Studentenverbände dienten dabei als eine Art „Experimentierwiese“ auf welcher die Studenten immer wieder neu versuchen, eine „neue“ jüdische Identität zu kreieren und diese letztendlich im Nachkriegsdeutschland zu etablieren. Das dies nicht einfach war, lag auch daran, dass es den Studenten an positiven Vorbildern innerhalb der jüdischen Gemeinschaft fehlte, seien es Lehrer, Rabbiner, Gemeindevorstände oder Zentralratsrepräsentanten, die den Studenten bei der Vermittlung einer positiven Identität hätten behilflich sein können. Die Folgen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik bekam die junge Generation auf diese Weise weiter schmerzlich zu spüren. Dieser Versuch einer Selbstverortung mit der Frage der eigenen jüdischen Identität bleibt auch heute nach dem Fall der Mauer und dem Zustrom von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion weiter Thema.
Uriel Kashi hat Erziehungswissenschaften und Judaistik an der Freien Universität zu Berlin sowie an der Hebrew University in Jerusalem studiert. Zwischen 2007 und 2010 war er Mitarbeiter der International School for Holocaust Studies in Yad Vashem. Seit 2010 arbeitet er als freiberuflicher Reiseleiter.