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Die Weimarer Republik, die in Folge der Niederlage und der Kapitulation Deutschlands im Ersten Weltkrieg entstand, litt seit ihrem Anfang unter einem Mangel an Stabilität und hatte Schwierigkeiten, eine gefestigte Demokratie zu etablieren. Diese Legitimitätskrise rührte unter anderem von dem Mythos der „Dolchstoßlegende“ her, demzufolge Deutschland den Krieg nicht an der Front verloren hatte, sondern als Ergebnis des Verrats seiner internen Gegner, an erster Stelle der Juden, zusammenbrach. Die Bedingungen des Friedensvertrages von Versailles und die Auflage hoher Reparationszahlungen an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs wurden als Rachsucht der Sieger ausgelegt. Auch in Österreich, das in Folge des Krieges von den historischen Gebieten der österreichisch-ungarischen Monarchie abgetrennt wurde, herrschte ähnlich gearteter Unmut, der eine Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und die Stabilisierung einer neuen Regierungsform erschwerten.
Das Gefühl der Frustration, die Weigerung, die Situation zu akzeptieren, die Furcht vor einem Überhandnehmen des Kommunismus und ein Mangel an wirtschaftlicher Stabiliät, die zu Ende des Krieges in Deutschland herrschten und es erschütterten, schufen einen fruchthaften Boden für die Entstehung rechtsradikaler nationalistischer Gruppen, unter ihnen die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Die Nationalsozialisten versuchten 1923 durch einen illegalen Umsturz die Herrschaft an sich zu reißen, und begannen nach dessen Scheitern ab 1924 bei Parlamentswahlen anzutreten. In Folge eines vorübergehenden wirtschaftlichen Aufschwungs und einer entspannten politischen Atmosphäre, die zu einer Schwächung der extremen Rechten führte, zeichnete sich 1925 zwar ein Zustand relativer Ruhe ab, aber die internationale Wirtschaftskrise, die im Jahr 1929 ausbrach, verstärkte maßgeblich das gärende Klima und das Gefühl der Verzweiflung. Die Wahlen 1930, in denen die Nationalsozialisten überraschend 18,3 Prozent der Stimmen erhielten, kennzeichneten mehr als alles andere den Anfang vom Ende der Republik.
Für die Juden in Deutschland war die Zeit der Weimarer Republik, mehr noch als die Zeiten davor, voller Paradoxa. Trotz ihrer Schwäche und mangelnder Stabilität, verwirklichte die Republik zum ersten Mal in der Praxis das Prinzip der Gleichberechtigung der Juden: Von nun an wurden sie zu Funktionen im öffentlichen Dienst, an Universitäten und Ähnlichem, berufen. In dieser Zeit erreichte auch die Kreativität der Juden in Deutschland, wie auch in Österreich, in zahlreichen Bereichen der Kultur, Philosophie und Kunst neue Höhepunkte und diese Periode zeichnete sich durch eine jüdische kulturelle Renaissance aus. Auf der anderen Seite, waren die Zeichen der Krise vor Allem im Erstarken des Antisemitismus erkennbar, der zu dieser Zeit brutaler wurde als je zuvor. Die Ernennung des Juden Walter Rathenau zum Außenminister Deutschlands im Jahre 1922 und seine Ermordung durch antisemitische deutsche Nationalisten wenige Monate später, zeigten deutlich sowohl den Erfolg der Juden in dieser Zeit als auch die schwere Bedrohung ihrer Zukunft.
Die deutschen Juden standen den politischen Bedrohungen ihrer Zukunft nicht gleichgültig gegenüber. Ein Teil von ihnen, allen voran die Mitglieder des Central-Vereins, erkannten auch in der nationalsozialistischen Partei eine neue noch nie dagewesene Bedrohung. Der Central-Verein unterstützte systematisch die demokratischen Parteien, die versuchten, zu einer Stabilisierung der Republik beizutragen, die Aktivitäten der deutschen Zionisten weiteten sich aus und der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten wurde gegründet, der danach strebte den patriotischen Ethos der jüdischen Kämpfer im Ersten Weltkrieg zu bewahren und gleichzeitig gegen den steigenden Antisemitismus anzukämpfen. Neben diesen Schwierigkeiten mussten die deutschen Juden auch noch mit der Wirtschaftskrise, die sie schwer traf, sowie mit einem demographischen Rückgang fertigwerden. Übertritte zum Christentum, Mischehen und eine negative Bevölkerungsentwicklung führten viele in und außerhalb Deutschlands zu der Annahme, dass die Juden aus Deutschland zur Gänze verschwinden werden.
Am Vorabend des Aufstiegs der nationalsozialistischen Partei an die Macht, lebten in Deutschland etwa 500.000 Juden, weniger als ein Prozent (0.8 %) der Gesamtbevölkerung. Trotz aller Schwierigkeiten und Krisen betrachteten sich die meisten als loyale Patrioten, als mit der deutschen Lebensweise durch ihre Sprache und Kultur verbunden. In breiten Kreisen der jüdischen Öffentlichkeit hielt sich der Glaube, dass, aufgrund ihrer Funktion im Handel und in der Industrie und dank ihres Beitrags zur deutschen Wirtschaft, die Nationalsozialisten vor ihrer totalen Verdrängung zurückschrecken würden.