Inwiefern erlebten die Frauen den Holocaust anders?
3. Die Art, wie Frauen ihr Leben erleben, sich daran erinnern und darüber sprechen, ist anders. Zum Beispiel: Männer und Frauen, die zur Zwangsarbeit selektiert worden waren, mussten dieselbe Aufnahmeprozedur durchlaufen: Ihre gesamte Körperbehaarung wurde abrasiert, sie bekamen Häftlingsuniformen, in Auschwitz wurden ihnen Nummern eintätowiert. Man spricht auch von einem Prozess der Entmenschlichung. Wenn man männliche und weibliche Zeugenaussagen über ein und dieselbe Prozedur vergleicht, stellt man fest, dass diese unterschiedlich erlebt wurde. Männer sprachen über die Prozedur, als hätte sie ihnen ihre Menschlichkeit genommen und sie zu Zahlen reduziert. Das Abrasieren der Haare erwähnten sie nie wieder, obwohl dieser Vorgang alle 2-3 Monate wiederholt wurde. Wenn sie es aber doch noch einmal ansprachen, dann als eine praktische Angelegenheit: Es gab Läuse, also war das Abrasieren der Haare etwas Gutes. Frauen sagten über die Aufnahmeprozedur: Wir hatten das Gefühl, keine Frauen mehr zu sein, unsere Weiblichkeit verloren zu haben. Die Erniedrigung durch das Abrasieren der Haare und der Verlust ihrer Weiblichkeit hörte nicht auf, sie zu beschäftigen. Man kann in ihren Zeugenaussagen und Memoiren nachlesen, dass sie es alle zwei Monate wieder zur Sprache brachten, ihre Gedanken dazu äußerten und und sagten, wie schrecklich es sei. Gerade hätten sie ein bisschen besser ausgesehen, und dann habe man ihnen die Haare wieder abgeschnitten. Sie empfanden es als brutal, grausam und demütigend. Das ist ein Beispiel für den Unterschied zwischen den Geschlechtern.
Ein weiterer Unterschied findet sich in den Alpträumen der Überlebenden nach dem Holocaust. In den Alpträumen männlicher KZ-Überlebender ging es meist um Essen und Hunger. Primo Levi schrieb darüber: Er hatte viele Alpträume, in denen ihm Essen serviert wird, und plötzlich bricht der Tisch zusammen, oder er bekommt eine Schüssel mit heißen Nudeln, aber dann wird er zur Arbeit gerufen. Es ist ein wiederkehrender Alptraum, in dem er Essen sieht, es aber nicht haben kann. Die meisten Alpträume weiblicher Lagerüberlebender hatten mit den hygienischen Verhältnissen oder besser gesagt mit dem Mangel an Hygiene zu tun. Das Hungertrauma war für Männer viel schwerer und blieb mehr in ihren Erinnerungen haften als bei Frauen, während Frauen mehr über die hygienischen Verhältnisse sprechen und darüber, dass sie keine Körperpflege betreiben konnten. In ihren Alpträumen sehen sie sich oft gezwungen, auf eine schmutzige Toilette zu gehen, und es ekelt sie: kein Toilettenpapier und kein Wasser, um sich die Hände zu waschen.
Gibt es ein bestimmtes Thema, das mit dem Schicksal von Frauen während des Holocaust zu tun hat und noch nicht erforscht wurde?
Was noch nicht erforscht wurde, ist das Leben von Frauen nach dem Holocaust. Zum Beispiel setzte ihre Menstruation erst ein, zwei oder drei Jahre nach dem Krieg wieder ein. Viele hatten Probleme, schwanger zu werden, die sowohl physischer als auch psychischer Natur waren. Das ist ein Thema, das noch nicht wirklich erforscht wurde. Die Rückkehr ins Leben war für Frauen anders als für Männer. ... Mütter, die während des Holocaust Kinder verloren, und das Thema Mutterschaft nach dem Krieg. ... Die Tatsache, dass Mutterschaft oft durch Sozialisation gelernt wird. Wir lernen, indem wir unsere Umgebung beobachten und erleben. Was Mutterschaft ist, erfahren wir entweder von unseren Müttern oder indem wir uns um unsere jüngeren Geschwister kümmern. Nun hatten die jungen Überlebenden, die nach dem Krieg 17 oder 18 Jahre alt waren und ihre gesamte Familie verloren hatten, keine Sozialisation erlebt, sie wussten nicht einmal die grundlegenden Dinge, zum Beispiel, wie man ein Kind großzieht. Von all den Ängsten und Traumata der Frauen, die ihre Kinder auf brutale Weise verloren hatten, ganz zu schweigen. Wie sollten sie das Vertrauen zurückgewinnen, dass ihr Kind überleben würde? All dies sind Themen, die noch nicht erforscht wurden: die Rückkehr der Frauen ins Leben.