Interview zum Thema „Täterschaft“ im Unterricht an deutschen Schulen mit Dr. Noa Mkayton, stellvertretende Leiterin der Europäischen Abteilung der Internationalen Schule für Holocaust-Studien in Yad Vashem, geführt von Sarah Eismann.
Teil 1
Dr. Mkayton, worin liegen Ihrer Meinung nach die Schwierigkeiten beim Unterrichten des Themas „Täterschaft“ in Deutschland?
Die Beschäftigung mit dem Thema „Täterschaft“ hat sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sehr entwickelt. In den ersten Jahrzehnten nach dem Holocaust war es schwierig, dieses Thema zu behandeln, u.a. aufgrund persönlicher Verwicklung, auch von Lehrern, die nach dem Krieg übernommen wurden und weiter unterrichteten. Lange Zeit hat es zudem an sinnvollen Ansätzen und Konzepten gefehlt, um mit dem Thema umzugehen. Die ersten Gedenkstätten haben das Thema „Täterschaft“ erst in den letzten 15 Jahren in ihre Ausstellungen mitaufgenommen. Es gab zu Beginn eine konzeptuelle Unsicherheit, wie man mit dem Thema umgehen solle: Sollte der Fokus auf die persönliche Geschichte des Täters gelegt werden, wollte man verstehen, wie Menschen aus psychologischer Sicht dazu in der Lage waren, diese Dinge zu tun, oder sollte man die Betonung auf die gesellschaftlichen Umstände legen, die dazu führten, dass Täterschaft sich in so horrenden Ausmaßen ausbreiten konnte? Holocaustunterricht war chronologisch aufgebaut, nicht thematisch, das heißt, die Frage, wie es aus menschlicher Perspektive dazu kommen konnte, dass Personen, die sich – auch in moralischer Hinsicht - als normativ empfanden, Männer, Frauen und Kinder ermorden konnten, wurde gar nicht gestellt.
Hat sich auch das pädagogische Konzept Yad Vashems mit den Jahren verändert?
Yad Vashem ist an ein historisches Mandat gebunden, das der Perspektive der Opfer gewidmet ist. Als in den neunziger Jahren die Internationale Schule für Holocaust-Studien gegründet wurde, rückte die Frage der pädagogischen Vermittlung des Holocaust mehr in den Mittelpunkt.
Vor einigen Jahren begann man, ein pädagogisches Konzept zum Thema Täterschaft zu entwickeln, ohne dabei das historische Mandat, das der Opferperspektive verpflichtet ist, abzuschwächen.
Gibt es eine Übersättigung mit dem Thema Holocaust bei den Jugendlichen heute?
Viele Pädagogen sprechen von Übersättigung und damit verbundenen Problemen, das Thema zu unterrichten. Es gibt aber auch Lehrer, die das Gegenteil berichten, nämlich dass die Schüler richtig darauf warten, dieses Thema zu bearbeiten. Eine gewisse Müdigkeit oder die Aussage „lasst uns mit dem Thema in Ruhe" hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Kinder oftmals zu lange allein gelassen worden sind mit diesem Thema: nämlich in den Jahren, in denen das Thema in der Öffentlichkeit und auch in den Familien zwar durchaus präsent ist, aber aufgrund des Alters der Kinder oder aus anderen Gründen quasi totgeschwiegen wird. Dies führt oftmals dazu, dass Schülerinnen und Schüler mit dem Thema „Holocaust“ in einem pädagogisch nicht betreuten Rahmen konfrontiert werden und damit natürlich emotional überfordert sind.
Daher hat Yad Vashem ein Konzept entwickelt, in dem die Erstbegegnung mit dem Thema „Holocaust“ bereits vor der regulären, im Lehrplan vorgesehenen Erstbegegnung liegt, jedoch in einer Art und Weise, die den Schutzraum der Lernenden respektiert.
Worin liegen die Schwierigkeiten oder Herausforderungen speziell heutzutage?
Zur Zeit wird oft darüber gesprochen, was wir pädagogisch richtig oder besser machen können, um ein Gefühl von Distanz bei den Lernenden zu überwinden. Diese Distanz resultiert zum einen aus der zeitlichen Distanz zum Geschehen. Es gibt niemanden mehr in den Familien, der dabei war und aus erster Hand erzählen könnte. Zum anderen darf man den Umstand nicht vergessen, dass es in Deutschland immer mehr Schüler gibt, die einen Migrationshintergrund haben und damit oft eine sowohl geographische als auch kulturelle und geschichtliche Distanz zum Thema „Shoah“ spüren. Einige der Schüler signalisieren: „Das ist nicht meine Geschichte, das geht mich nichts an."
Weil sie sich nicht in einer Tradition der Verantwortung sehen und sich deshalb nicht schuldig fühlen müssen?
Genau. Hier liegt ein weiterer möglicher Grund für die Selbstdistanzierung vom Thema Holocaust, die manche Schüler vornehmen. Der Holocaust wurde gerade in Deutschland oftmals mit einer zweiten Agenda unterrichtet: mit der Erwartung, dass die Geschichte nicht nur vermittelt, sondern auch auf ganz bestimmte Weise verinnerlicht werden sollte. Es gab ein abgestecktes Set von Erwartungen, wie die Lernenden das Thema aufzunehmen hätten: Die Kinder sollten betroffen sein, sie sollten traurig sein oder entrüstet. Diese Erwartungen haben selbstverständlich auch dazu geführt, dass die Schüler umso mehr Distanz entwickelt haben. Der niederländische Didaktiker Ido Abram hat sehr schön formuliert, dass man den Kindern die Autonomie zugestehen muss, ihre Einstellung zu dem Gelernten selbst zu entwickeln, selbst zu definieren. Man muss Kinder in ihrer Autonomie respektieren. Dies ist häufig bei den Lehrern der zweiten Generation nicht geschehen, die mit ihrem gut gemeinten Vorsatz „jetzt kommt das wichtigste Thema der deutschen Geschichte, und ihr müsst es auch als solches aufnehmen, denn es ist Teil unserer Identität" oftmals das Gegenteil bewirkt haben. Bei den Lehrern heute, die aus der dritten und manchmal schon vierten Generation stammen, ist dieser Ansatz deutlich weniger ausgeprägt. Der Holocaust ist natürlich nach wie vor Teil unserer deutschen Geschichte, aber man will keine Schuldgefühle mehr vermitteln. Man versucht heute an das Thema unvoreingenommener heranzugehen. Die sogenannte Betroffenheitspädagogik ist am Abklingen, und man versucht sachlicher zu verstehen, was damals passiert ist und was wir hier und heute in dem Land, das diese Verbrechen vor 80 Jahren initiiert, geplant und ausgeführt hat, damit umgehen können.