In welche Richtung wird sich die Auseinandersetzung mit dem Thema „Täterschaft“ in der Zukunft noch verändern müssen? Können Sie eventuelle Tendenzen abschätzen?
Es gibt bereits momentan eine Tendenz, zusätzlich zur nationalen Geschichte eines Volkes die transnationalen Dimensionen der Shoah mehr zu betonen, das heißt, wenn ich als Deutsche den Holocaust studiere, dann ist es zum einen wichtig, im lokalen Umfeld anzufangen und zu verstehen, was in der Gegend, in der ich aufgewachsen und sozialisiert worden bin, passiert ist. Gleichzeitig muss die Shoah aber auch begriffen werden als transnationales, global-europäisches Projekt, in dem es darum ging, die gesamte jüdische Bevölkerung zu vernichten und in das die europäischen Zivilgesellschaften verwickelt waren. Als Lehrer sollte man darauf achten, den Schülern zu verstehen zu geben, dass Züge aus ganz Europa nach Auschwitz rollten und dass Auschwitz das Ende eines Prozesses war, der in fast jedem europäischen Land stattgefunden hat. Wenn man die Shoah aus dieser Persepektive betrachtet, wird sie gleichzeitig auch als relevant wahrnehmbar für alle europäischen Länder, d.h. auch für Schüler, deren Eltern nicht in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind. Dabei darf natürlich nicht verloren gehen, was die Rolle der Deutschen war, nämlich die Initiierung, die zentrale Verantwortung und Durchführung dieses Genozids.
Eine andere Wandlung zeigt sich auch in der Unterrichtsart: Die Shoah wird normalerweise als Teil einer chronologischen Abfolge von Ereignissen unterrichtet. Im Allgemeinen sind die Lehrpläne in Deutschland chronologisch orientiert, das heißt, man beginnt in der Steinzeit und geht chronologisch die Epochen durch, bis man in der 9. Klasse zur Shoah kommt, die man im Rahmen des Zweiten Weltkrieges behandelt. Die Shoah wird damit in den geschichtlichen Ablauf eingebettet, aber nicht themenspezifisch unterrichtet. Yad Vashem entwickelt sehr viele Unterrichtsmaterialien, die versuchen, bestimmte thematische Aspekte einzubeziehen. Pädagogen greifen zunehmend auf diese Materialien zurück, weil sie dort Aspekte finden, die in einem chronologischen Durchlauf kaum bearbeitet werden. Dies sind zum Beispiel die Frage nach den Täterinnen und Tätern, oder überhaupt menschliche Aspekte. Die Shoah als menschliches Ereignis zu sehen und unter menschlichen Aspekten zu betrachten, ist etwas, was von den klassischen Schulbüchern wenig geleistet wird. Dieser Ansatz ist auch wichtig für Schülerinnen und Schüler, die nicht aus Deutschland stammen. Die Shoah war eine menschliche Tragödie, die so in der Menschheitsgeschichte noch nie geschehen war. Es war ein Ereignis, das vorher so nicht denkbar war und insofern auch die Menschheitsgeschichte geprägt hat, weil plötzlich diese Dinge denkbar, möglich und durchführbar waren. Diese Fragen sind relevant für jeden, unabhängig von Herkunft oder Kulturkreis, denn es geht um den Menschen an sich.
Ist die Vorstellung der bloßen Befehlsausführung und des Kollektivzwangs in Deutschland immer noch verbreitet?
Zum Teil hört man diese Vorstellung immer noch. Das hängt sicher mit historischem Fachwissen zusammen, das nicht genug Eingang in den Unterricht findet. Es gibt wirklich in deutschen Universitäten und in Schulbüchern viele Schwerpunkte zum Thema Gleichschaltung während der dreißiger Jahre, Manipulation des Individuums, Propaganda und NS-Organe, die die Gesellschaft umgeformt haben. Was hier aber fehlt, ist die Frage nach der Rolle des Einzelnen. Dieser Aspekt wird von den Lehrmaterialien von Yad Vashem aufgegriffen, die dem Individuum eine Stimme geben, es aus der Anonymität herausziehen und seine Geschichte rekonstruieren. Dies ist besonders für die Opfer relevant, gilt aber - unter anderen Aspekten - auch für die Täter: Jedes Individuum trifft Entscheidungen, mit denen es die geschichtliche Entwicklung beeinflussen kann. Der polnische Historiker Jan Gross hat es sehr markant ausgedrückt: Der Verlauf geschichtlicher Ereignisse wird durch die Akteure vor Ort wesentlich beeinflusst. Geschichte wird von Menschen getragen, die agieren. Daher nennt Jan T. Gross sie „Akteure" und vermeidet mit Absicht den Begriff „bystanders" (Zuschauer). Denn auch „nur" zuzuschauen ist eine Entscheidung, nämlich die Entscheidung, nichts zu tun. Pädagogisch ist der Begriff „Zuschauer" daher höchst problematisch. Jede Person trifft Entscheidungen, und jede Entscheidung führt zu bestimmten Ergebnissen. Hätten sich mehr Akteure zu anderen Entscheidungen durchgerungen, dann hätte das Ergebnis auch anders aussehen können, und weit mehr Juden hätten in Europa überleben können, so die These von Jan T. Gross.
All dies sind Themen und Fragestellungen, die in deutschen Schulbüchern so eigentlich nicht vorkommen. Dabei ist dies genau der Schlüssel zum Verständnis: Individuen beeinflussen Geschichte. Es ist nicht egal wie ich mich entscheide und positioniere, sondern es macht einen ganz wichtigen Unterschied, auch wenn ich nur für mich selbst entscheiden kann. Dies ist eine der wichtigsten Lehren, die wir aus der Auseinandersetzung mit der Shoah ziehen können:
Jeder Mensch trägt seinen Teil zur Geschichte bei. Schüler sollten verstehen, dass auch sie selbst im Hier und Jetzt Geschichte mitgestalten.