„Ich kam mit der schrecklichsten aller Erfahrungen aus den Vernichtungslagern, die in den Geschichtsbüchern verzeichnet sind, verletzt an Leib und Seele. Nach unbeschreiblichen Verlusten - meiner Familie, meiner Kindheit und meiner Freunde – quälten mich körperliche und seelische Schmerzen. Das Kinderheim in Blankenese gab mir einen Teil meiner verlorenen Kindheit zurück, es wurde mein Zuhause. Meine Lehrer und die anderen Mädchen, die ich dort kennenlernte, wurden mit der Zeit zu Freunden und Familie."
So berichtete Renee Kochman (Renia Baaf) über ihre Zeit im Kinderheim in Hamburg-Blankenese.
Nach Kriegsende wurde allmählich das Ausmaß der Katastrophe deutlich, die das jüdische Volk getroffen hatte. Zu den sechs Millionen Opfern des Holocaust zählten rund 1,5 Millionen jüdische Kinder. Die Überlebenden, darunter einige Zehntausend Kinder, waren über ganz Europa verstreut. Die Kinder wurden in den befreiten Lagern, bei christlichen Familien, in Klöstern, auf den Straßen umherirrend, in Wäldern und Verstecken aufgefunden. Viele von ihnen waren Waisen, „alte Kinder", „Erwachsene in Kinderkörpern", wie sie sich selbst bezeichneten.
Kinder und Jugendliche erlebten den Holocaust in seiner ganzen Grausamkeit, in Ghettos, in Lagern, im Versteck, auf der Wanderung von Ort zu Ort und auf den Todesmärschen. Sie waren Opfer von Missbrauch, Demütigung, Zwangsarbeit, Hunger, Vernachlässigung und in einigen Fällen sogar von medizinischen Experimenten. Die meisten von ihnen verloren ihre engsten Angehörigen und wurden ihrer Kindheit beraubt, konnten nicht in den Kindergarten, in die Schule oder spielen gehen, sich von ihren Familien verwöhnen lassen oder in einer sicheren Umgebung aufwachsen. Stattdessen überlebten sie unter falscher Identität, angewiesen auf die Gnade fremder Menschen, in ständiger Angst, ihre jüdische Identität würde entdeckt und man würde sie verraten und zusammen mit ihren Rettern ausliefern. Sie fürchteten, die Menschen, bei denen sie sich versteckten, würden ihrer müde werden oder Angst bekommen, sie länger bei sich zu behalten. Sie mussten sich Denk- und Verhaltensmuster aneignen, mit denen sie Vergangenheit und Elternhaus hinter sich ließen, ihre Eltern, ihren Namen, ihre Religion und manchmal ihre Muttersprache verleugnen. Sie lernten zu schweigen, Gefühle zu unterdrücken und sich auf niemanden zu verlassen, um zu überleben.
Nach dem Holocaust wurde eine Anzahl von Kinderheimen eingerichtet, um die Kinder zu betreuen. Die Pfleger, Betreuer und Lehrer, die den Kindern halfen, waren überwiegend Holocaust-Überlebende. Die meisten waren junge Leute im Alter von 17 bis 25 Jahren, manchmal nur ein oder zwei Jahre älter als ihre Schützlinge oder gleichaltrig, meist ohne jede Erfahrung in der Kinderpflege. Ein Großteil waren ehemalige Betreuer und Mitglieder der Pionierjugendbewegung. Auf eigene Initiative sammelten sie die Kinder ein, richteten kooperative Kinderheime ein, in denen sie als Begleiter und Betreuer fungierten, und gaben den Kindern Hoffnung auf ein neues Leben. Was ihnen an Erfahrung fehlte, machten sie durch Empathie wett. Als Überlebende waren sie imstande, sich mit dem Schmerz der Kinder zu identifizieren, zu verstehen, was sie mitgemacht hatten und ihr Vertrauen in die Menschheit wiederherzustellen. Sie wurden in erster Linie vom American Jewish Joint Distribution Committee und von der Jewish Agency, jüdischen Organisationen vor Ort, Soldaten aus Eretz Israel (Britisches Mandatsgebiet Palästina) in der britischen Armee, darunter Soldaten der Jüdischen Brigade, Abgesandten des Jischuw, der Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen (UNRRA) und lokalen Regierungen unterstützt. In Polen wurde die zionistische Koordynacja [Koordinierungskomitee] zur Auslösung jüdischer Kinder gegründet, deren Ziel es war, verwaiste Kinder ausfindig zu machen, die bei christlichen Familien Zuflucht gefunden hatten, um sie in die jüdische Gemeinschaft zurückzuführen - manchmal gegen ihren Willen. Unter ihnen waren Kinder, die vollkommen von ihren Familien abgeschnitten waren und nicht wussten, wer ihre Eltern waren.
Diese Ausstellung erzählt die Geschichte des Kinderheims in Blankenese.
Hinter den Gesichtern, die uns aus den hier gezeigten Fotos des Kinderheims entgegenlächeln, verbergen sich schwere Lebensgeschichten, harte Verluste und seelische Narben.