Das Projekt „Zugfahrten in den Untergang” ist in Yad Vashem 2007 angelaufen. Welches Ziel verfolgt dieses Projekt und welche Ressourcen benutzen Sie bei Ihrer Arbeit?
Ziel des Forschungsprojektes ist es, die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden mittels Deportationen zu rekonstruieren. Wir erforschen die noch verbliebenen fragmentarischen Dokumente. Das Besondere an unserem Projekt ist die Integration von ganz unterschiedlichem Material: offizielle deutsche Quellen, Dokumente der Bürokraten und Soldaten, die die Deportationen zu verantworten haben, aber auch persönliche Zeugnisse wie Briefe, Berichte, Tagebücher, sowie nach 1945 verfasste Interviews mit Überlebenden. Die Forscher*innen setzen all diese Quellen wie ein Mosaik zusammen, durch das das Projekt versucht, die Geschichte dieses Teils der sogenannten „Endlösung” zu vermitteln. In unsere Forschung gehen unterschiedliche Quellen ein – und damit auch verschiedene Perspektiven auf die Verbrechen.
Nicht immer kann man Zeitzeugenberichte als historische Quelle benutzen. Warum denken Sie ist der Gebrauch dieser Berichte dennoch besonders wichtig?
Zeugenberichten wird oft vorgeworfen, historisch nicht exakt zu sein. Nehmen wir an, das Transportdatum ist unklar, wenn ich nur ein Memoir finde mit einer Datumsangabe, dann bin ich tatsächlich auch vorsichtig. Wenn dieses eine Dokument das Abfahrtsdatum mit einem Feiertag verbindet, dann halte ich die Angabe schon für wahrscheinlicher, und wenn mehrere Deportierte ein und dasselbe Datum nennen, dann halte ich die Angabe für durchaus möglich, versuche aber selbstverständlich, sie anderen Quellen gegenüber zu stellen. Klar, eine Rechnung der Reichsbahn an die deutsche Verwaltung des Ghetto Lodz ist ein auf den ersten Blick zuverlässiges Dokument hinsichtlich des Transportdatums, aber vergessen Sie nicht, auch in Täterdokumenten können Daten beabsichtigt oder unbeabsichtigt falsch angegeben sein. Transportlisten gehören zu unseren wichtigsten Quellen. Sie geben bildlich wieder, wie Menschen in Nummern verwandelt wurden, geben aber auch Eckdaten der Deportationen zum Weiterforschen an, wie Name, Geburtsdatum, letzte Meldeadresse, Tätigkeit. Um aber die Deportation in ihrem Ablauf und in ihrer Bedeutung für die davon Betroffenen zu verstehen, ist ein Blick in Unterlagen der jüdischen Gemeinden und überhaupt in Zeugnisse der Deportierten unverzichtbar. Wir möchten die Geschichte der Deportationen nicht der Perspektive der Täter*innen überlassen, die sich in offiziellen deutschen Dokumenten findet. Die Geschichte der Massendeportationen ließe sich ohne die Stimmen der Opfer gar nicht rekonstruieren.
Welche Deportationen aus welchen Ländern haben Sie bisher schon ermitteln können und an welchen arbeiten Sie derzeit?
Im Moment rekonstruieren und veröffentlichen wir die letzten uns bekannten Deportationen im und aus dem von Deutschland annektierten Teil Polens, dem Warthegau. Das sind die Deportationen im Zuge der Liquidierung der Ghettos in den kleineren und größeren Orten dieser Region, vor allem in das Ghetto Lodz (Litzmannstadt) und in das Todeslager Chelmno (Kulmhof), sowie die Transporte aus dem Ghetto Lodz nach Chelmno und nach Auschwitz-Birkenau. Wir forschen auch zu den Transporten, die bereits 1939/1940 aus dem Warthegau in das Generalgouvernement („Nahplan“-Deportationen) fuhren sowie zu den frühen „Euthanasie“-Transporten im Warthegau und den Deportationen aus dieser Region in die Zwangsarbeitslager.
Für 2021 planen wir, die Deportationen in dem von Deutschland besetzen Teil Polens, dem Generalgouvernement zu erschließen. Unsere Website wird in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Derzeit liefert sie Informationen zu ungefähr 1500 Transporten, die zwischen 1939 und 1945 aus Deutschland, Österreich, dem sogenannten „Protektorat Böhmen und Mähren“, sowie Frankreich, Griechenland, Luxemburg, Belgien, und den Niederlanden nach Osteuropa und aus dem Warthegau fuhren. Wir forschen von West nach Ost, auch um das geographische Ausmaß der Deportationen während der Shoah aufzeigen zu können.
Können Sie einschätzen wie lange Sie für den Abschluss des gesamten Projekts brauchen bzw. wieviele Deportationen es insgesamt gab?
Die meisten der sechs Millionen jüdischen Opfer der Shoah wurden weit weg von ihrem Zuhause ermordet, deportiert in Zügen oder anderen Fahrzeugen. Als das Forschungsprojekt „Zugfahrten in den Untergang” in 2007 seine Arbeit aufgenommen hat, sind die Kolleg*innen von etwa 3,000 Deportationen in die Vernichtungslager ausgegangen. Aber wieviele Deportationen es insgesamt gab, ist so nicht zu beantworten. Wir erschließen mit dem Projekt ja auch die Deportationen in Konzentrationslager, in Zwangsarbeits- und Transitlager oder zu Erschießungsstätten – sowohl im Rahmen der „Endlösung", als auch Transporte, die vor Juni 1941 fuhren – weil auch diese Teil der Auslöschung der jüdischen Gemeinden und des zunehmenden Selektionsprozesses waren. Wie lange das Projekt für die Rekonstruktion aller Deportationen brauchen wird, ist nicht leicht zu beantworten. Das besetzte Polen ist das erste Land in Osteuropa, zu dem wir forschen, Länder wie die der ehemaligen Sowjetunion, oder Rumänien, Ex-Yugoslawien, um nur ein paar Beispiele zu nennen, das wird noch dauern. Unser Projekt ist auf lange Zeit angelegt, dabei aber ganz erheblich von Spenden abhängig.
Dieser Blog wird großzügig unterstützt von der Konrad-Adenauer-Stiftung