Lore Sterns Puppe
Kaum zwei Jahre alt war die kleine Lore, als die Nazis während der Pogrome ihr Elternhaus in Kassel verwüsteten und ihren Vater ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppten.
Kurz bevor die Vandalierer in das Haus einbrachen, gewährten die Nachbarn Lore und ihrer Mutter Käthchen Schutz in ihrem Haus. Lore, die schon zum Schlafen fertig gemacht war, trug in dieser Nacht ihren Pyjama. Nach dem Pogrom fanden Mutter und Tochter ihr Zuhause vollkommen zerstört und unbewohnbar vor. So mussten sie in das Haus von Käthchens Mutter, Lina Kahnlein-Stern, umziehen.
Nach sechs Wochen im Konzentrationslager Buchenwald entließ man Markus, Lores Vater. Die Bedingung: Er sollte Deutschland so schnell wie möglich verlassen. Durch seine Kontakte gelang es ihm, ein Visum in die USA zu organisieren. Angekommen in den Vereinigten Staaten setzte Markus alles daran, auch für seine Frau und Tochter Visa zu ergattern und sie vor den Nazis zu retten.
Beinahe zwei Jahre vergingen, bis Markus Erfolg hatte. Erst im August 1941, kurz bevor die Grenzen zur Auswanderung für Juden aus Deutschland endgültig geschlossen wurden, durften Käthchen und Laura endlich nach Lissabon und von dort aus in die USA ausreisen. „Als meine Mutter und ich nach Amerika aufgebrochen sind, konnten wir fast nichts mitnehmen. Meine Puppe Inge, der ich einen ganz deutschen Namen gegeben hatte, war eines der ganz wenigen Dinge, die wir bei uns hatten", erinnerte sich Lore Jahrzehnte später mit Tränen in den Augen.
Die Puppe, die sie zum Geburtstag von ihrer Großmutter erhalten hatte, bekleidete sie mit demselben Pyjama, den sie selbst in der unheilvollen Nacht der Novemberpogrome getragen hatte. Der Pyjama war ihr schließlich zu klein geworden, so dass sie ihn als Puppenbekleidung nutzte. Am 9. September 1941 legte der Dampfer Mouzinho im Hafen von New York an. Die Familie war wiedervereint.
Erst nach dem Krieg erfuhren Markus und Käthchen, was ihren Familienmitgliedern in Deutschland widerfahren war. Markus' Eltern Yettchen und Daniel Stern sowie Sarah, seine einzige Schwester, hatten nicht überlebt. Auch Käthchens Mutter Lina und ihre beiden Schwestern Bella Simon und Salma Sender und deren Familien – sie alle wurden im Holocaust ermordet. Käthchens Bruder Moritz und ihre Schwester Varma hatten sich rechtzeitig vor dem Krieg in die USA retten können.
1991 wanderte Lore nach Israel aus. 2018 übergab sie ihre Puppe Inge zur Aufbewahrung an Yad Vashem.
„Diese Puppe bedeutete mir so viel. Sie war ein Geschenk meiner Großmutter, und ich hatte sie aus Deutschland mitgebracht. Als ich schon selbst Kinder hatte, war es ihnen nicht erlaubt, mit der Puppe zu spielen. Der Pyjama erinnerte mich immer daran, was in der Pogromnacht geschehen war!"