Das Waisenhaus in Dinslaken
Die Geschichte des jüdischen Waisenhauses im Städtchen Dinslaken, unweit von Düsseldorf, das während der Novemberpogrome 1938 brutal verwüstet wurde, lenkt den Blick auf das Schicksal der schwächsten Glieder der Bevölkerung während der Zeit des Nationalsozialismus: das der jüdischen Kinder.
Seit 1913 hatte das Waisenhaus unter der Leitung von Dr. Leopold Rothschild als Zufluchtsort für jüdische Kinder gedient. Es vermittelte ein Gefühl von Geborgenheit und bot Raum zum Spielen: hinter dem Gebäude befand sich eine große Wiese mit Obstbäumen. Die Kinder kamen zum Morgengebet zusammen, auch Religionsunterricht wurde angeboten. Für die Dinslakener Juden wurde das Heim zum geistigen und religiösen Mittelpunkt der Stadt. Mit der Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre begann man, auch Kinder aufzunehmen, deren Familien sich in Not befanden. 1934 kam Benno Turteltaub als Achtjähriger mit seinen zwei Brüdern, Josef und Meier-Max, ins Waisenhaus. Bennos Mutter Lea lag im Krankenhaus, sein Vater Isaak war mit dem ältesten Kind, der Tochter Rosi, zu Hause in Dortmund geblieben. Benno behielt das Heim als warmes Zuhause mit einer angenehmen Atmosphäre in Erinnerung, in dem die Kinder durch Kleinigkeiten im Alltag verwöhnt wurden.
Im September 1938, wenige Wochen vor den tragischen Ereignissen der Novemberpogrome, übernahm S. Herz die Leitung des Heims. Am frühen Morgen des 10. November kamen ein Polizist und zwei Beamte der Gestapo ins Waisenhaus, um eine Haussuchung vorzunehmen. Nach getaner Tat ordneten sie an, bis 10:00 Uhr dürfe niemand das Haus verlassen.
Nach der Morgenandacht versammelte Herz alle 46 zum Internat gehörenden Personen - 32 von ihnen Kinder - im Speisesaal des Heims und hielt schweren Herzens eine Ansprache, um sie auf das Kommende vorzubereiten:
„Wie ihr wisst, ist gestern Abend Herr von Rath, ein Mitglied der deutschen Botschaft in Paris, den Verletzungen eines Attentats erlegen. Man macht hierfür uns Juden verantwortlich. Die innenpolitische Hochspannung in Deutschland hat nunmehr rein antisemitische Farbe bekommen, und sie wird in den nächsten Stunden mit aller Wahrscheinlichkeit ihre Auslösung in antisemitischen Ausschreitungen finden, auch in unserer Stadt. Ich habe das Gefühl, dass wir Juden in Deutschland seit dem Mittelalter nicht mehr solch harte Wege begehen mussten, wie es heute der Fall sein wird. Bleibt stark! Vertrauet auf Gott! Wir werden auch diese schweren Zeiten überstehen!“
Um 9:30 morgens drangen etwa 50 Randalierer in das Waisenhaus ein und begannen, es zu verwüsten. Sie schlugen Fensterscheiben ein, warfen Möbel um und schleuderten persönliche Gegenstände und Bücher in alle Richtungen. Herz forderte die Kinder auf, das Gebäude zu verlassen, da er annahm, dadurch die Gefahr mindern zu können. Ohne Jacken und Mützen rannten die verängstigten Kinder auf die Straße. Herz lief mit ihnen zum Rathaus, um Polizeischutz zu erbitten. Der Hauptwachtmeister der Schutzpolizei von Dinslaken entgegnete, Juden stünde kein Schutz zu.
Kurze Zeit später wurden die Synagoge und mehrere Häuser jüdischer Bürger in Brand gesetzt. Von einem Polizisten erfuhr Herz, dass jüdische Männer vor ihrem Abtransport ins Konzentrationslager Dachau geschlagen worden seien. Benno Turteltaub, der die Ereignisse als 12-Jähriger erlebte, erinnert sich:
„Wir waren gerade erst mit dem Morgengebet fertig geworden, und schon hörten wir Lärm und Schreie. Wir rannten nach draußen auf die Wiese und konnten von dort aus alles hören. Alle zitterten. Am Nachmittag brachte man uns dann auf einen Bauernhof, wo wir ein paar Tage bleiben durften. Dort bekamen wir etwas zu essen und schliefen auf dem Stroh."
Einige Tage darauf gelang es Herz, die Kinder vorübergehend in Köln unterzubringen. Später konnten sie auf Kindertransporten nach Belgien und in die Niederlande gebracht werden. Herz selbst wanderte 1939 nach Irland und von dort nach Australien aus. Von den Kindern des Waisenhauses überlebte etwa die Hälfte den Holocaust. Benno überlebte als einziges Mitglied seiner Familie in den Niederlanden.