„Erinnerst Du Dich noch an die Lieder? Ich singe sie auch.“
Dies schrieb Leah Jurgrau in ihrem letzten Brief aus dem Lager Westerbork an ihre achtjährige Tochter Ruth, die bei einer christlichen Familie in Groningen versteckt war.
Leah Friedmann und Dov Jurgrau lernten sich 1922 an Deck eines Schiffes nach Eretz Israel (Mandatspalästina) kennen. Leah wurde 1905 in Tarnow, Polen, geboren und gehörte zu Mitgliedern des HaSchomer HaZair, die sich zu einer Siedlergruppe zusammenschlossen, um den Kibbuz Beit Alfa aufzubauen. Dov wurde 1902 in Radautz in der Bukowina geboren. Er reiste allein auf dem Schiff und bereitete den Weg für seine drei jüngeren Brüder, die ihm nach Eretz Israel folgten. Leah und Dov ließen sich zunächst im Kibbuz Beit Alfa nieder und zogen später nach Tel-Aviv. 1927 heirateten sie in Jerusalem. Leah arbeitete als Säuglingsbetreuerin, Dov als Tischler.
1928 verließ das Paar Eretz Israel. Dov studierte in Deutschland Architektur und erlernte das Zimmermannshandwerk, Leah fuhr zu ihrem Bruder Max und ihrer Schwester Bepi (Pessia) nach Amsterdam. Nach Beendigung des Studiums zog Dov zu Leah nach Amsterdam und öffnete dort eine Möbelschreinerei-Werkstatt. Das Ehepaar Jurgrau trat dem jiddischen Kulturverein „Ansky“ bei. Die einzige Tochter, Ruth, wurde 1934 in Amsterdam geboren.
Als der Krieg ausbrach, versuchten die Jurgraus vergebens, aus den Niederlanden zu fliehen. Im Sommer 1942 fand Dov Unterschlupf in einer Wohnung in Groningen. Seine Tochter Ruth kam dazu. Leah versteckte sich bei holländischen Freunden, der Familie Boersma, in Amsterdam, wurde jedoch gefasst, im Durchgangslager Westerbork interniert und von dort aus 1943 nach Sobibor in den Tod geschickt. Familie Boersma lehnte es ab, als Gerechte unter den Völkern anerkannt zu werden, da es ihr nicht gelungen war, Leah zu retten, die in ihrer Wohnung festgenommen wurde. Ruth wurde mit der Hilfe der niederländischen Untergrundbewegung aus der Wohnung, in der sie mit ihrem Vater versteckt war, weggebracht und bei einer Reihe von holländischen Familien untergebracht, die für sie sorgten. Auf diese Weise überlebte sie den Krieg. Ihr Vater Dov wurde festgenommen und nach Westerbork verschickt. Im Februar 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert und im Dezember ermordet.
Während ihres Aufenthalts in den verschiedenen Verstecken bekam Ruth Briefe von ihren Eltern, von denen einige hier gezeigt werden. Die Briefe wurden Ruth durch Mitglieder der niederländischen Untergrundbewegung zugestellt, die ihr aus Sorge um ihr Leben nicht erlaubten, die Briefe zu behalten. Erst nach dem Krieg bekam Ruth alle Briefe. Mindestens 15 Menschen waren an Ruths Rettung und am Versuch der Rettung ihrer Eltern beteiligt.
Die meisten von Ruths Rettern wurden als Gerechte unter den Völkern anerkannt: Homme Poort; Alina und Jan Vos; Matheus und Jantje van der Laan; Ritske und Immigje Veenstra; Elisabeth Magnin; Adriana Knappert; Dirk, Gerritje, Wiebren und Akke Oppedijk; Henriette Voûte; Anna Stork.
Nach dem Krieg wurde Ruth von Freunden ihrer Eltern in Amsterdam aufgenommen. 1947 wanderte sie, der Bitte ihrer Onkel, der Brüder ihres Vaters, folgend, nach Eretz Israel aus. 1994 reichte Ruth Jurgrau-Lavi Gedenkblätter für ihre geliebten Eltern Leah und Dov und andere im Holocaust ermordete Verwandte ein.
Liesje, mein Püppchen!!
Wie geht es Dir? Geht es Dir gut dort? Ich vermisse Dich sehr. Sei brav und lies nicht zu viel. Das ist nicht gut für so ein kleines Mädchen wie Dich. Mami ist sehr müde und krank. Bitte sie, so sehr Du kannst, zu Dir zu kommen ... schreib ihr einen langen Brief, wie Du noch keinen geschrieben hast ... Vielleicht kommt Mami und dann können wir – Papi und Du – wieder glücklich sein.
Viele Küsse von Deinem Papi
Auf der Rückseite der Postkarte schrieb er:
Liebe Freunde, herzliche Grüße, und möge Gott Euch für all das Gute belohnen ...
Süßes Püppchen!
Ich habe seit einer Ewigkeit keinen Brief von Dir bekommen. Wie kommt das? Zeichnest Du nicht mehr? Wie haben Dir die Bücher gefallen? Oder bist Du noch zu klein? Und das Häschen? Und wie ging es dem Herrn [Dov], der Dich besuchen kam? Hast Du ihm einen Kuss von mir gegeben? Mir geht es gut, und ich hoffe, wir sehen uns bald. Dann feiern wir.
Und jetzt, mein Schatz, Grüße an die beiden Kleinen und natürlich an Dich, von L [Leah]
Auf der Rückseite des Briefes befindet sich eine Zeichnung, und darunter stehen die Worte:
Mein Zimmer. Verstehst Du?
Das bin ich – hübsch, hm?
Liebling!
Der Brief und die Zeichnung waren wundervoll. Allen gefällt die Zeichnung. Hast Du mit der linken oder mit der rechten Hand gezeichnet?
Es freut mich, dass Du mit den beiden Kleinen an einem guten Ort bist. Es ist doch sicher nett für Dich, oder? Ich hoffe, Du benimmst Dich wie ein großes Mädchen und spielst schön mit den Kindern.
Viele Küsse an Euch drei.
L [Leah]
Erinnerst Du Dich noch an die Lieder? Ich singe sie auch.