30. August 1942

Lager Les Milles, Frankreich

„ ... aber man muss den Kopf oben behalten“

Anne Meiningers letzter Brief

Dies schrieb Anne Meininger in ihrem letzten Brief, den sie aus Frankreich an ihre Tochter Hilde Garti in Bulgarien schickte.

Eugen und Anne Meininger (geb. Stern) lebten in Göttingen. Eugen war im Viehhandel tätig. 1913 wurde ihre Tochter Hilde geboren, etwa acht Jahre später ihr Sohn Franz-Josef. Im Oktober 1935 wurde Eugen mitgeteilt, sein Gewerbeschein sei für ungültig erklärt worden und er müsse umgehend die Arbeit einstellen. Eugen starb am selben Tag zu Hause an Herzversagen. Er liegt auf dem jüdischen Friedhof in Göttingen begraben.

Hilde heiratete Robert Garti, einen bulgarisch-jüdischen Zahnarzt, der zum Studium nach Deutschland gekommen war, und zog mit ihm nach Bulgarien, wo ihre Töchter Renée (später Rina Lavie) und Jeneline-Jenny (später Gila Ofir) geboren wurden. 1937 wanderte Franz-Josef mit der Jugend-Alija nach Eretz Israel (Mandatspalästina) aus und ließ sich in Kfar Jecheskel nieder.

Nach der Geburt ihrer Enkelin Renée reiste Anne nach Bulgarien, um ihre Familie zu besuchen. Danach besuchte sie ihre Schwester in den Vereinigten Staaten, und von dort kehrte sie zurück nach Deutschland.

1940 floh Anne nach Luxemburg, zog nach Frankreich und wurde im Lager Gurs interniert. Ihren letzten Brief an ihre Tochter schrieb sie am 30. August 1942 im Lager Les Milles. Von dort aus wurde sie nach Drancy deportiert. Am 1. September gelang es ihr noch, ihrem Sohn in Eretz Israel eine Postkarte zum Geburtstag zu schicken. Das war ihr letztes Lebenszeichen. Am 7. September 1942 wurde sie nach Auschwitz in den Tod geschickt.

Ihr Sohn Josef ging zur britischen Armee und kämpfte in den Reihen der Jüdischen Brigade. Später heiratete er Dvora, die er in Kfar Jecheskel kennengelernt hatte. Gemeinsam waren sie an der Gründung von Moschaw Batzra in der Scharonebene beteiligt. 1948 wanderten Hilde, ihr Ehemann und ihre Töchter aus Bulgarien nach Israel ein. Den Namen „Meininger“ änderte Josef in den sechziger Jahren in „Mann“.

Über die Jahre schickte Anne ihrer Familie Briefe. Ihren Enkelinnen schickte sie Postkarten aus Frankreich, die mit fröhlichen Zeichnungen illustriert waren. In ihren Briefen behielt sie ihre schwierigen Lebensumstände für sich und blieb optimistisch. Ausgestellt ist hier ihr letzter Brief an ihre Tochter Hilde, den sie zu deren 29. Geburtstag schrieb.

1999 reichte Hilde Garti (Meininger) Gedenkblätter für ihre Eltern Anne und Eugen ein. 2011 übergab Anne und Eugen Meiningers Enkelin Gila Ofir im Rahmen des Projekts „Die Scherben aufsammeln“ Annes Briefe und Postkarten an Yad Vashem.

30. August 1942

Meine guten, guten Kinder,
heute an Deinem Geburtstag sind ohnedies meine Gedanken schon so ganz besonders intensiv mit Dir beschäftigt, meine gute Musch. Hoffentlich habt Ihr den Tag den Umständen nach nett verbracht. Was gäbe ich drum, dabei sein zu können, aber auch diese Zeit wird kommen. Wir müssen halt Geduld haben. Seit Mittwoch sind wir in einem Camp & geht es mir wirklich gut. Ihr braucht Euch wirklich keine Sorgen zu machen. Ich bin mit sehr vielen Bekannten zusammen. Wir bleiben jedoch nicht hier, wissen jedoch nicht, wann wir fortkommen. Auf alle Fälle schreibt mir an Gusti Adresse 7, Rue St. François de Sales, Annecy (Haute-Savoie) er schickt mir dann die Post nach. Hoffentlich geht es Euch, meinen Lieben, gut. Macht Euch nur keine unnützen Sorgen meinetwegen. Wenn wir nur weiter gegenseitig voneinander hören können. Schreibt nur weiter fleißig und schickt mir süße Bildchen. Uebermorgen hat unser Lausbub Geburtstag, das sind dieses Jahr keine schönen Tage für mich, aber man muss den Kopf oben behalten. Ihr kennt ja Eure Mutti, sie ist wirklich tapfer. Zu Otto und Martchen ginge ich ganz gerne, dann hätte ich nette, gute Menschen um mich & sie könnten mir sicher behilflich sein. Vielleicht besuche ich auch Arthur oder Tillichen. Das Wetter ist sehr gut & bin ich den ganzen Tag in der frischen Luft. Ihr habt sicher viel Arbeit, & ich könnte mich so gut bei Euch betätigen. Was werde ich wohl für Augen machen, wenn ich Rentsche und Jennylein mal sehe. Ich wollte nur, es wäre erst so weit.

Für heute Schluss, meine guten 4. Bleibt gesund. Schreibt weiter fleißig. Seid innigst geküsst von Eurer Euch liebenden Mutti


Eine Freundin Annes fügte am Ende des Briefes ein paar Zeilen hinzu:
Liebe Frau Hilde!

Zuerst will ich mich entschuldigen, daß ich nie wieder geschrieben habe. Aber ich hatte wirklich immer etwas anderes zu tun. Jetzt haben wir leider zuviel Zeit, aber auch dies wird einmal vorübergehen. Wir tragen ja alle dasselbe Los & müssen wir uns eben gegenseitig trösten. Ich hoffe, dass es Ihnen, Ihrem lb. Mann & den süßen Kindern unveränderlich gut geht. Ich bin ja durch Ihre lb. Mutti die wirklich eine goldige Frau ist über alles unterrichtet. Wir freuen uns jedesmal die süßen Bildchen zu betrachten. Meine liebe Mama läßt Sie herzlichst grüßen. Von mir die herzlichsten Grüße, [unleserlich]

Anne Meiningers letzter Brief an ihre Tochter Hilde Garti und deren Familie in Bulgarien
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Bunte Postkarten, die Anne Meininger aus Frankreich ihren Enkelinnen in Bulgarien schickte
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