Lieder aus dem Ghetto Kowno
Noch bevor im August 1941 das Ghetto Kowno errichtet wurde, waren Juden von Deutschen und Litauern ermordet worden. Als das Ghetto geschlossen wurde, waren dort noch 29.760 Juden, die Hälfte der jüdischen Bevölkerung, die 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, in Kowno gelebt hatte. Innerhalb von zweieinhalb Monaten wurden dreitausend Juden ermordet. Am 28. Oktober wurde die „Große Aktion“ ausgeführt, in deren Verlauf die Juden ins 9. Fort in Kowno gebracht wurden, wo man sechstausend von ihnen ermordete – die Hälfte davon Kinder. Es folgte eine Periode relativer Ruhe, die bis März 1944 andauerte. Alle Erwachsenen unter der nunmehr 17.412 Seelen zählenden jüdischen Bevölkerung wurden zur Zwangsarbeit im Ghetto und außerhalb herangezogen.
Den Juden im Ghetto wurde befohlen, einen Leiter für den Judenrat zu wählen, und sie entschieden sich für Dr. Elchanan Elkes, einen beliebten Arzt, der Zionist war. Das Arbeitsamt des Judenrats war die wichtigste Institution im Ghetto. Zunächst wurden alle männlichen Bewohner im Alter von 14 bis 60 zum Arbeitsdienst eingezogen. Später kamen die Frauen hinzu. Männer arbeiteten sechs oder sieben Tage pro Woche; die Frauen arbeiteten zunächst drei, später fünf Tage. Bis Frühling 1942 wurde den meisten Ghettobewohnern klar definierte Arbeit zugeteilt. Wer keine geregelte Arbeit hatte, musste jeden Morgen am Ghettotor erscheinen, um sich zu provisorischer Arbeit einteilen zu lassen. Die Vorarbeiter in den Ghetto-Werkstätten waren Juden, die in den Werkstätten und Fabriken außerhalb des Ghettos Deutsche oder Litauer. Diejenigen, die außerhalb des Ghettos arbeiteten, wurden von bewaffneten deutschen oder litauischen Wachleuten begleitet. Bei der Rückkehr ins Ghetto bekamen sie dürftige Essensrationen als Bezahlung für ihre Arbeit. Die Nazis entschieden, wieviel Essen sie bekamen. Der Hunger war groß, und das Schmuggeln von Nahrung ins Ghetto war überlebenswichtig.
Das Ghetto, wie andere Ghettos auch, wurde in der ärmsten und am wenigsten entwickelten Gegend der Stadt errichtet und verfügte über kein Abwassersystem. Die Lebensbedingungen und die Übervölkerung führten zu der rapiden Ausbreitung von Epidemien, besonders Typhus, die alle Bewohner gefährdeten. Aus Angst vor Entdeckung durch die Deutschen vermieden es die Kranken, um medizinische Versorgung zu bitten oder ins Ghettokrankenhaus zu gehen. Es ist anzunehmen, dass die Deutschen den Kranken das Verlassen des Ghettos zu Arbeitszwecken verboten hätten, um die Ansteckung der anderen Arbeiter zu verhindern. So war der Kranke zum Tode verurteilt, denn wer nicht zur Arbeit ging, kam weder in den Genuss seiner mageren Essensration, noch konnte er irgendwelche Nahrungsmittel hereinschmuggeln. Als Reaktion darauf richtete das Ghetto ein geheimes Untergrundkrankenhaus ein, in dem die Kranken ohne Wissen der Deutschen behandelt wurden.
Das Ghetto wurde ein riesiges Zwangsarbeitslager und fungierte als solches bis zu seiner Liquidierung am 8. Juli 1944. Als sich die Rote Armee Kowno näherte, begannen die deutschen Behörden, die Juden in Konzentrationslager innerhalb Deutschlands zu verlegen. Viele versteckten sich in unterirdischen Bunkern, die sie zu genau diesem Zweck vorbereitet hatten. Die Deutschen versuchten, die Bunker zu sprengen, und es gelang ihnen zweitausend Juden zu töten, die sich dort versteckt gehalten hatten. Nur neunzig überlebten in den Bunkern und hatten das Glück, am 1. August 1944 die Befreiung Kownos durch die Rote Armee zu erleben.
Kultur im Ghetto Kowno
Kulturelle Aktivitäten im Ghetto Kowno waren ein weiteres Kapitel der langen Tradition jüdischer Kultur in Kowno, entsprechend den historischen Umständen. Kowno war ein Zentrum jüdischer Kultur, sowohl in ihrer hebräischen als auch in ihrer jiddischen Ausprägung, mit einem imposanten Schulsystem vom Kindergarten bis zum Lehrerseminar. Besonders herausragend war seine religiöse Kultur, deren Schmuckstück die Slobodka-Jeschiwa war. Zwei Grundschulen wurden im Ghetto Kowno eröffnet. Wenige Wochen nach dem Massenmord des 28. Oktober 1941 führten die Kinder aus Anlass des Chanukkah-Festes in der Schule eine festliche Szenenfolge auf. Ende Februar 1942 konfiszierten die Nazis sämtliche Bücher. Dennoch wurde bis zum totalen Verbot durch die Nazis im August 1942 weiter unterrichtet. Trotz des Verbots lernten kleine Gruppen von Kindern in verschiedenen Privatwohnungen weiter. Der Judenrat bekam Erlaubnis, die Ausbildung junger Arbeiter für verschiedene Berufe zu organisieren. Innerhalb dieses Rahmens gelang es dem Judenrat auch, Grundfächer zu unterrichten und einen Chor und eine Theatergruppe einzurichten – sogar ein Ballettensemble war den Berufsschulen angegliedert.
Im Sommer 1942 bat der bekannte Musiker Mischa Hofmekler um Erlaubnis, ein Orchester zu gründen. Dr. Elkes war besorgt, man könnte ein Orchester als Ausdruck der Freude interpretieren, was im Ghetto fehl am Platze war. Hofmekler erklärte, die Gründung eines Orchesters würde tiefe emotionale Bedürfnisse des Menschen befriedigen, und der Judenrat willigte ein. Die Slobodka-Jeschiwa wurde zum Konzertsaal. Als im August 1942 die ersten Akkorde erklangen, weinten sowohl die Ausführenden als auch das Publikum, aus Trauer und aus Stolz.
Auch das religiöse Leben ging weiter. Im August 1941 schlossen die Deutschen alle Synagogen, doch gläubige Juden fuhren fort, Gottesdienste und Torahstudien abzuhalten.
Die Ghettobewohner komponierten Lieder, die die Ereignisse mit Humor kommentierten. Das Tor – Symbol des Überlebens im Ghetto – taucht in vielen Liedern auf. Eines, „Fun di Arbet“ („Von der Arbeit“), auch bekannt als „Baym geto toyerl“ („Am Ghettotor“), beschreibt das Überleben im Ghetto, das vom Schmuggeln abhängig war, zu der Melodie des berühmten Liedes von Mark Warschawski über den gemütlichen kleinen Cheder. Auch die Enge im Ghetto und der Hunger werden in diesen Liedern behandelt, und zwar im Stil der Straßenlieder des Ghettos Lodz, die auf jiddischen Melodien aus der Vorkriegszeit basierten. Während diese von Schmerke Kaczerginski aufgenommen und manche sogar in seinem Buch „Lider fun di Getos un Lagern“ („Lieder aus den Ghettos und Lagern“, 1948) veröffentlicht worden, etablierten sie sich nach dem Krieg nicht als Lieder des Gedenkens, da sie in volkstümlichem Stil und in volkstümlicher Sprache gehalten waren, die das tägliche Leben im Ghetto Kowno beschrieb.
Diese Lieder, im Gegensatz zu denen aus dem Ghetto Lodz, sind bis heute nicht erforscht worden, und ihre Wiedergabe hier führt sie in das Repertoire der Holocaust-Lieder zurück.